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Was die Eltern wissen, ist, dass Samuel den Koran liest, dass er sein Titelbild auf Facebook ändert: Früher war es der Elektro-Musiker Paul Kalkbrenner, jetzt ist es ein reich verzierter Einband des Korans. Sie wissen auch, dass er im Frühjahr 2014 zum Islam konvertiert, dass er auf der Suche ist, viele Fragen hat. Wenn er sie am Wochenende und in den Ferien besucht, will er mit ihnen diskutieren, sie von seinem Glauben überzeugen. Die Eltern waren in der DDR in der kirchlichen Opposition aktiv, haben sich für freie Wahlen eingesetzt. Nun versucht ihr Sohn sie vom Wählen abzuhalten. Demokratie, ein System für Ungläubige. Manchmal kommt die Mutter von der Arbeit nach Hause, und Samuel wartet schon in der Küche, fordert sie auf, ihm zuzuhören, mit ihm Videos anzusehen von Islamwissenschaftlern, aber auch von Pierre Vogel, einem der einflussreichsten islamistischen Prediger Deutschlands. Die Mutter will guten Willen zeigen, ihren Sohn nicht zurückstoßen. "Ihm zuliebe habe ich das angeschaut."
Als die große Schwester Samuel zum Studienanfang 2013 ein Paket mit Lebensmitteln schenkt, lehnt er ab, das meiste davon darf er nicht mehr essen: Currywurst, Gummibärchen, Salami. Als der zwei Jahre ältere Bruder Jakob mit Freunden im Garten grillt, setzt sich Samuel an einen eigenen Tisch, auf dem kein Alkohol steht. Er betet nun fünfmal am Tag, seine Hosen krempelt er hoch bis über die Knöchel. Als die Mutter ihn darauf anspricht, antwortet er, die Knöchel zu bedecken sei haram, verboten. Wenn die Familie am Tisch sitzt und betet: "Komm, Herr Jesus, sei unser Gast", findet Samuel das lächerlich. Also wählt der Vater, wenn Samuel dabei ist, ein anderes Tischgebet. Je toleranter die Familie reagiert, desto weiter scheint Samuel zu gehen, desto mehr scheint er den Respekt zu verlieren.
Der Höhepunkt ist erreicht, als Samuel ein paar Wochen vor seiner Abreise nach Syrien im vergangenen Sommer beim Abendessen nicht nur seinen Teller ableckt, sondern auch seinen Vater dazu auffordert. Es darf kein Krümel übrig bleiben. Die Eltern sind zum ersten Mal sprachlos. Mohammed, der Prophet, habe auch den Teller abgeleckt, sagt Samuel. "Aus heutiger Sicht hat er sich im Vergleich zu seinem bisherigen Leben radikal verändert, aber wir haben das als strenggläubig eingestuft", sagt der Vater. Die Eltern denken, das seien die religiösen Regeln, an die sich Samuel halten müsse. Sie werden nicht laut, sie streiten nicht, sie akzeptieren es. Religiosität ist in der Familie tief verankert, vielleicht fällt es ihr deshalb so schwer, Samuels Irrweg zu erkennen und ihn zu kritisieren. Sie sehen die Zeichen einer Radikalisierung, aber können sie nicht richtig deuten.
Nur einmal hat der Vater so etwas wie eine Vorahnung. Im Fernsehen schaut er eine Sendung, in der ein Mann von seinem Sohn erzählt, der viel Geld vom Konto abgehoben habe und dann mithilfe von Schleusern nach Syrien gereist sei. Kurz darauf fehlt auch auf Samuels Konto Geld. "Da hatte ich das erste Mal Angst", sagt der Vater. Aber Samuel hat eine Erklärung dafür, und seine Mutter beruhigt ihren Mann: "Sammy fährt doch nicht in den Krieg!"
An einem Sonnabend im März 2015 sitzt Samuel auf dem Bett und schreibt sich auf Facebook mit einer Freundin. Seit er wieder zu Hause ist, wohnt er in seinem alten Zimmer bei den Eltern. Durchs Fenster blickt er in den Garten, dahinter beginnen die Felder. Von der Disney-Bettwäsche grinst das Schwein Pumba aus dem Film König der Löwen. An der Wand hängen Medaillen vom Tischtennis, im Regal stehen die Bücher vom Deutsch-Abitur: Dürrenmatt, Grass und Hesse. Die Schrankwand, die Steinsammlung, die Auslegware – wenn es einen Superlativ von normal gäbe, träfe er auf dieses Zimmer zu.
Kaum etwas deutet darauf hin, dass ein Riss durch Samuels Wirklichkeit geht: der Koran, in Leder gebunden, im Schulterbeutel, der blauschwarze Rucksack, bedeckt mit rotbräunlichem Staub der syrischen Wüste, und der Zettel an der Tür auf Arabisch. Samuels jüngere Schwester hat ihn geschrieben. "Schön, dass Du wieder da bist", steht darauf.