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Ganz anders erlebte es Anne Bennett bei ihren Aufenthalten im Süden Syriens zwischen 1994 und 2004. Ihre Gesprächspartner dort gingen mit dem Thema äußerst vorsichtig um, groß erschien Bennett ihre Furcht vor Vorurteilen und Ablehnung. Fartacek kann das aus früheren Reisen bestätigen: „Wiedergeburt war in Syrien vor dem Krieg ein extremes Tabuthema.“ Als er dagegen in Österreich mit geflohenen syrischen Drusen sprach, konnte er keinerlei Hemmung feststellen, im Gegenteil.
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Bei den Drusen aber haben sich Spuren davon erhalten. Dort wird jeder nach dem Tod als Druse oder Drusin wiedergeboren. Also nie als Pflanze oder Tier. Auch gibt es kein Karma oder Handlungen vergangener Leben, mit denen sich die Wanderung beeinflussen lässt wie im Hinduismus. Und während dort die Seelen in einer Art Zwischenstadium existieren können, bevor sie in einen neuen Körper wandern, geschieht dies für Drusen unmittelbar, denn kein Geist kann ohne Körper sein. Die Drusen verwenden für die Seelenwanderung das arabische Wort „taqammus“, das von „qammasa“ kommt: „mit einem Hemd bekleiden“.
Obwohl also jede Seele nach drusischer Vorstellung in einen neuen Körper wandert, erinnert sich nicht jeder an seine Vorleben. Auf tausend Kinder, die keine solche Erinnerung haben, kommt vielleicht ein Fall von „nutq“, schätzte einer von Fartaceks Interviewpartnern. Dabei bezeichnet „nutq“ den Drang eines Kindes, von seinem früheren Leben zu erzählen. Berühmte Fälle würden wie Volkserzählungen weitergegeben, manche Orte wie Abadiye im Shouf-Gebirge seien besonders bekannt dafür, sagt Fartacek. Das Phänomen sei aber in allen Schichten und Regionen anzutreffen.
Die meisten Wiedergeburten werden von Menschen berichtet, die plötzlich oder gewaltsam zu Tode kamen. Dabei sei nicht primär die Todesart bestimmend, sondern der falsche Zeitpunkt, offene Rechnungen oder soziale Verantwortung. Dann meldeten sich die Seelen nach drei bis sieben Jahren in ihrem neuen Körper. Über den Dorfklatsch erreicht die Nachricht von der Wiedergeburt dann die Familie des Verstorbenen. Heutzutage geht das auch durch das Internet und im Libanon über Fernsehsendungen, in denen „sprechende Personen“ ihre Geschichte erzählen.
Einer freudigen Familienzusammenführung ähneln die ersten Treffen aber nur selten. Die Situation ist emotional. Ein unerwarteter, gewaltsamer Tod eines geliebten Menschen, ein Kind, das diese Person wiederbringen soll – das kann alle Beteiligten schnell überfordern. Hinzu kommt eine Grundskepsis, die den angeblich Reinkarnierten zunächst entgegengebracht wird und erst ausgeräumt werden muss. Gibt es Zeugen des Todes, die den Bericht des Kindes bestätigen? Gibt es Charaktereigenschaften, die Kind und Verstorbener teilen? Kennt sich das Kind in der früheren Umgebung und in der früheren Familie aus?
Ein befriedigendes Ergebnis dieser Prüfung heißt aber noch nicht, dass das Kind automatisch in die Familie integriert wird. „Es besteht die Möglichkeit, dass die sprechende Person zurückgewiesen wird“, berichtet Fartacek. Aber auch im Fall der Eingliederung kann es zu Konflikten kommen, etwa in finanziellen Fragen. Geld oder Wertgegenstände, die mittels der Aussagen des Betroffenen wiedergefunden wurden, würden meist gerecht aufgeteilt, berichtet Fartacek. Er kennt allerdings einen Fall, in dem Söhne sich weigerten, ihrem wiedergeborenen Vater einen Anteil auszuzahlen, weil er zu Lebzeiten ein Geizkragen gewesen sei. „Es gibt eine emotionale Verantwortung“, sagt Fartacek, die aber nur die sprechende Person betreffe. „Eltern, Geschwister oder Kinder der sprechenden Person haften nicht für dessen Taqammus-Verwandtschaft.“
Eine negative Erfahrung machte auch die vierzigjährige Frau aus dem Shouf-Gebirge, mit der Nigst und Fartacek sprachen. Sie sei als Kind an Krebs gestorben und habe ihre Wiedergeburt bewiesen, indem sie eine Affäre des Vaters mit Hilfe von Liebesbriefen zum Vorschein brachte, die sie unter ihrem Bett versteckt hatte. Der Vater sei ausgerastet, habe sie geschlagen und beschuldigt zu lügen, letztlich sei seine Ehe daran zugrunde gegangen. Erzählungen wie diese sind es vermutlich, welche die Mehrheit von Fartaceks Interviewpartnern in ihrer Ansicht bestärken, es entstehe viel Chaos, wenn sprechende Kinder ihre alten Familien finden, man solle den Kindern diese Zerrissenheit lieber ersparen. Auch für die neuen Familien kann es ziemlich kränkend sein, wenn das Kind sich nicht mehr zugehörig fühlt und zum Beispiel von dem schönen Haus erzählt, in dem es in seinem früheren Leben gewohnt habe.
So versuchte in einer von Bennett aufgeschriebenen Geschichte ein Vater über Monate hinweg, die Erzählungen seiner Tochter Lamis als Kinderflausen zu ignorieren. Sie sei nach einem Unfall in den Armen ihrer Tochter Amal gestorben und müsse sich jetzt wieder um ihre Kinder kümmern, insistierte die Fünfjährige. Völlig eingenommen von ihrem alten Leben, konnte sich Lamis in der Schule nicht konzentrieren und war wochenlang psychisch krank. Der Bruder des Vaters war es schließlich, der ihn davon überzeugte, nach der Familie zu suchen. Genaue Orts- und Personenbeschreibungen der Tochter hätten die Kunde ziemlich schnell zu Amal und ihrer Familie gebracht, die nach Zögern einem Treffen zustimmten. Für Lamis war dieses Treffen lebensverändernd, endlich habe sie wieder zur Schule gehen und mit Gleichaltrigen spielen können.
Amals Familie ist mit dem Reinkarnationsfall anders umgegangen als der eingangs erwähnte Saeed. Der baute sofort eine starke Bindung auf, sprach das jüngere Mädchen mit „Mutter“ an und begleitete sie durchs Leben. Amal hingegen zweifelte zwar nicht an Lamis’ Gewissheit, ihre frühere Familie gefunden zu haben, behandelte sie aber wie ein kleines Mädchen und nannte sie auch nicht Mutter. Wie sich die Dinge nach dem ersten Treffen weiterentwickelten, sei von Fall zu Fall verschieden, sagt Fartacek. Häufig ergäben sich enge Beziehungen zu den ehemaligen Bezugspersonen. Einig waren sich seine Gesprächspartner aber darin, dass die Kinder ihr Leben in der neuen Familie weiterführen und sich nicht zu sehr an ihre Vergangenheit klammern sollten.