Hallo cony + alle,
vielleicht wäre es erstmal hilfreich, eine offene Haltung zu entwickeln, in der Gedanken miteinander geteilt werden können, um neue Aspekte zu entdecken, die man mit sich allein nicht so leicht findet. In dieser Haltung sind wir Freunde, Kolleg_innen, Mitstreiter_innen, die gemeinsam nach der Wahrheit suchen.
Ich bin Asperger-Autistin und ich bin quietschgesund. Allerdings schleichen sich allmählich die ersten Alterszipperlein ein. Nun, dagegen würde ein bisschen mehr Sport helfen - ich weiß es wohl.
Autismus ist m.E. eine Normvariante. So wie rote Haare und Sommersprossen, Hautfarben, große und kleine Menschen und was es so alles gibt. Früher wurden nur die äußeren Unterschiede zwischen den Menschen als angeboren gesehen, was sich im Gehirn abspielte, galt als Folge von allerlei Tugenden und Untugenden, für die man vollständig selbst verantwortlich war. Dann "entdeckte" die Pädagogik und die Psychologie, dass die Eltern in Wirklichkeit an unseren Tugenden und Untugenden schuld seien (damals hat man bei Autismus eher die Mütter zu therapieren versucht als die Kinder) und nun stellt sich allmählich heraus, dass die Gehirne der Menschen unterschiedlich gewachsen sind. Die Art, wie etwas an einem Menschen von Natur aus gewachsen ist, nennen wir nur dann eine Krankheit, wenn ausgesprochenes Leiden daraus erfolgt. Ich bin nunmal keine Hypochonderin, und deshalb kann ich nicht behaupten, ich sei krank. Ein Leiden müsste ich mir nämlich erst einreden.
Könnte es sein, dass es für ein Kind, das nicht mit Fieber im Bett liegt oder so, eine Auswirkung hat, wenn es dauernd zu hören kriegt, es sei krank? Schließlich kennen auch wir Erwachsene den Effekt, dass man sich gleich ganz elend fühlt, wenn man denkt, dass man krank ist.
Zitat:
vielleicht verstehe ich das falsch,aber was hat es für einen sinn sich als gesund zu bezeichnen,wenn man es nicht ist.dann bräuchte niemand dieses forum ,keine integrative einrichtung,keine therapeuten und keine ärzte,für was auch immer.
Genau das ist es, was mich nachdenklich macht. Als ich ein Kind war, habe ich keine integrative Einrichtung, keine Therapeuten und keine Ärzte gebraucht (außer, wenn ich krank war). Damals wurde Asperger-Autismus noch gar nicht diagnostiziert in Deutschland. Ich frage mich, was sich in den Schulen und in der Gesellschaft geändert hat, dass wir das heute brauchen? Wie sind all die Menschen meiner Generation und älter mit AS durch ihre Schulzeit gekommen? Es war auch damals nicht alles so toll, aber die Leiden der Kinder, die heute mit denselben Diagnosen durch die Schule müssen, scheinen so viel schlimmer zu sein als unsere damals! Ich vermute, dass sich die Bedingungen in den Schulen sehr verschärft haben. Und auch im Arbeitsleben hat sich vieles verändert: Früher schien es das wichtigste zu sein, dass man fachlich seine Arbeit gut gemacht hat. Heute muss man seinen Charakter anpreisen, mit allerlei "Softskills" glänzen und möglichst mit englischen Modewörtern angeben. Einfach nur "freundlich" die Informationen rausrücken, reicht auch nicht mehr, man muss sich "professionell" anhören am Telefon, auch wenn man gar keine Informationen hat.
Die Welt hat sich verändert, und damit entstehen neue "Krankheiten". Die Normen werden immer enger gezogen, insbesondere auf das Verkraften von Lärm und Durcheinander (Einführung von Großraumbüros zwecks schnellem akustischen Informationsaustausch), Multitasking, Stressresistenz (das Pensum pro Zeiteinheit steigt, auch in der Schule) und Angeberei, die früher als peinliche Untugend galt, heute aber überall verlangt wird.
Es gibt Menschen, die die Dinge lieber geruhsam und gründlich tun und auch gar nicht anders können, die nicht schnell viel Ramsch produzieren können, weil sie jedes Detail sorgsam ausarbeiten, die ehrlich sind und widersprechen, wenn ihnen etwas nicht richtig oder ungerecht erscheint, denen es leichter fällt, selbst zu denken statt Vorgefertigtes nachzuplappern, die manchmal lange brauchen, um neue Bewegungsabläufe zu lernen, die einen starken eigenen Willen haben und sich nicht unterordnen können, die manchmal ziemlich stur sein können, die an ihren alten Gewohnheiten gern festhalten und für die eine Tasse Tee oder Kaffee in Stille am Morgen alleine getrunken ein geradezu heiliges Ritual ist, bei dem man sie nicht stören darf, die sehr zufrieden sind, wenn es jeden Tag so ziemlich dasselbe Essen gibt, die gern ihre Ruhe haben und merken, wie ihre geistigen Kräfte aufblühen dabei, die viel grübeln und die manchmal nicht gern reden. Solche Menschen hat es schon immer gegeben.
Diese "neue Gesellschaft" hat beschlossen, sie aus der Norm auszugliedern und für krank zu erklären.
Einige von uns möchten lieber, dass die Tatsache anerkannt wird, dass Menschen nunmal neurologisch unterschiedlich sind und dass Schule, Beruf und Gesellschaft so sein sollten, dass alle sich darin wohlfühlen können, egal, wie sie neurologisch gewachsen sind.
Zitat:
im übrigen,wenn mein sohn,aufgrund des autismus und deren begleiterscheinung von anderen kindern gemobt und schikaniert wird,hat er drunter zu leiden und hat das problem.die anderen kinder wohl kaum.
Ja, er hat das Problem, aber die Verhaltensstörung haben die anderen. In meiner Schulzeit galt es als Lernziel, dass die Schüler_innen untereinander solidarisch sind, Schwächeren helfen und Andersartige tolerieren. Das hat nicht immer geklappt, und "Außenseiter" gab es auch - aber den weitaus größten Teil meiner Schulzeit war ich eine "akzeptierte Außenseiterin", einfach ein bisschen einzelgängerisch, und trotzdem so einigermaßen dabei, auch wenn ich nie was verstand, wenn auf dem Schulhof in Grüppchen durcheinandergeredet wurde. Oft hab ich mich auch lieber oben auf den Schulfluren versteckt und gelesen. Da machten die Lehrer_innen zwar immer Jagd auf einen, um einen auf den Schulhof oder ins "Forum" zu treiben, aber zum Arzt hätten sie einen nicht deshalb gebracht.
So uralt bin ich übrigens nicht: Ich bin 43 und bekam meine AS-Diagnose 2006. Zu der Ärztin bin ich dann noch ein paar Mal gegangen, weil sie immer sagte, ich solle mir einen neuen Termin geben lassen. Schließlich habe ich ihr gesagt, dass ich nicht weiß, warum ich zu ihr kommen soll, und da sagte sie, sie wüsste auch nicht, wozu ich komme. Dann bin ich nicht mehr hingegangen.
Silvana schrieb:
Zitat:
Und wenn ich sage ein Autist ist aus der Sicht des Mediziners krank, da er von der medizinischen Norm abweicht.
Bewerte ich nicht den Menschen als solches, sondern nur einen Zustand von ihm. Er ist ja nicht nur seine Krankheit.
Das sehe ich ein bisschen anders: Der Mensch als solches besteht aus Körper und Geist, und der Geist ist nach schulmedizinischer Auffassung im Gehirn materiell gebildet durch die neurologischen Strukturen dort. Bei Autisten wurden Abweichungen von der Norm-Neurostruktur in mindestens 5 verschiedenen Bereichen gefunden - das reicht vom Frontallappen bis zum Hirnstamm. Darüber hinaus sollen auch die Vernetzungen der einzelnen Hirnbereiche anders sein - bei Autist_innen gibt es mehr "kurze Verbindungen" zwischen den Neuronen, die nahe beieinander liegen, bei NT's sind die "langen Verbindungen", die unterschiedliche Hirnbereiche miteinander verbinden, stärker ausgeprägt.
Wenn man von einem Dualismus zwischen Körper und Geist ausgeht und das Gehirn dem Körper zuordnet, der praktisch von einem immateriellen "Gespenst" (der Seele) bewohnt wird, dann lässt sich der Autismus wohl von der Persönlichkeit trennen. Wenn man aber von einem materialistischen Weltbild ausgeht, dann *ist* das Gehirn praktisch unsere Persönlichkeit.
Zitat:
und wer hat hier geschrieben,oder angedeutet ,das der ganze mensch als solches krank ist,so wie du es darstellst.ich jedenfalls nicht.was meine erziehung angeht.wenn ich nicht so hinterher gewesen wäre,und ein jahr lang um die logopädie gekämpft hätte,würde mein sohn heute noch nicht richtig sprechen,genauso wie ihm die logopädie hilft.damit verbiege ich ihn nicht füge ihm keine depression oder sonstiges zu,sondern erleichtere ihm die verständigung.
Mein Sohn war auch bei einer Logopädin, und die war wirklich nett und es hat ihm Spaß gemacht und er hat da sehr schnelle Fortschritte gemacht. Einen großen Wortschatz hatte er ja schon, er konnte nur viele Laute nicht aussprechen und hat eine sehr eigene Grammatik verwendet. Übrigens musste ich um die Stunden bei der Logopädin überhaupt nicht kämpfen - das lief ganz unkompliziert über so eine Sprechstunde beim Gesundheitsamt, die ihn da hin überwiesen haben.
Sprechen müssen ja alle Kinder erst lernen, manche brauchen eben einen besonders gezielten Unterricht dabei. Deshalb nenne ich das auch nicht "Behandlung" oder "Therapie". Bei anderen Kindern nennt man es ja auch nicht "Behandlung", wenn die Mutter als Laiin ihrem Kleinkind Wörter vorspricht und so.
Mein Kopf ist mir recht, so wie er ist, denn es ist ein ziemlich kreativer und intelligenter Kopf. Ich war auch als Kind ein recht zufriedenes Kind - meine Mutter erzählte immer, ich hätte mich "stundenlang alleine beschäftigen können". Ich hatte keine Therapien, und ich war nicht mal im Kindergarten und wurde erst mit 7 eingeschult - meine Mutter hat versucht, mich so lange wie möglich aus solchen Veranstaltungen rauszuhalten. Ich hatte Eltern und Großeltern und einen jüngeren Bruder, und als ich 7 Jahre alt war, sind wir auf einen alten Gutshof gezogen, wo außer uns noch drei Familien mit Kindern wohnten - im Alter von 4 bis 16. Da waren alle Kinder "anders", und das nächste Dorf war kilometerweit weg. Ich glaube, für mein Soziales Lernen ist es sehr viel besser gewesen, dass meine Eltern anscheinend sorgsam auf eine günstige Umgebung geachtet haben, als wenn die ganze Zeit irgendwelche Therapeuten und Helfer um mich rum gewuselt wären und mir erzählt hätten, ich sei krank. Jedenfalls bin ich auf die Art ganz gut durch die Schulzeit gekommen (gemessen an dem Drama, was man heute davon macht!) und bin nach der 11. Klasse vom Gymnasium abgegangen, weil ich im Hyperfokus der ersten Liebe völlig das Interesse an der Schule verlor und lieber schwanger wurde und heiratete...
In der letzten Zeit habe ich gemerkt, dass ich meine Unklarheiten nach der Diagnose, was ich nun alles an mir akzeptieren muss und wo ich mich nun systematischer anstrengen sollte, irgendwie doch am besten kläre über die Auseinandersetzung mit dieser Frage, ob AS was Pathologisches ist. So rein wissenschaftlich und über den Kopf hatte ich schon länger eingesehen, dass das eine ziemlich willkürliche Behauptung ist, weil Dinge "so sind" und aus Atomen bestehen und so, eine Eigenschaft wie "krank" aber nicht daran zu finden ist. Es handelt sich da eindeutig um eine gesellschaftliche Zuschreibung. Aber so ganz angekommen ist das bei mir erst gestern, als ich endlich mal laut zugegeben habe, dass ich mich habe diagnostizieren lassen, weil ich aus der Norm raus wollte. Es gab auch allerlei praktische Gründe, wie z.B. den, dass ich seit meinem 18. Lebensjahr mit der geheimen Angst gelebt habe, dass jemand Gefährliches herausfinden könnte, dass ich nicht "normal" bin und ich dann in einer Psychiatrie eingesperrt und mit Psychopharmaka "behandelt" werden könnte. Psychiater waren deshalb für mich die gefährlichsten Leute und ich habe eine schwere und lange Krisenzeit (agitierte Depression oder so, vielleicht auch Burnout, was weiß ich) allein durchgestanden, weil ich Angst vor lebenslanger Psychiatrisierung hatte.
AS schien mir der sicherste und angenehmste "Ort", den das schulmedizinische Modell des Menschen zu bieten hat, und noch dazu sehr zutreffend, weil ich da Menschen traf, die viele meiner seltsamen Wahrnehmungen und Erfahrungen auch kannten und mir auch sonst mehr oder weniger ähnlich sind.
Würde es in unserer Gesellschaft einen anderen sicheren und akzeptierten Weg geben, die Norm zu verlassen, dann hätte ich den vielleicht gewählt. Mich pathologisieren zu lassen war nicht mein Ziel, ich wollte nur so sein dürfen, wie ich bin und habe die Pathologisierung dafür *in Kauf genommen*.
Im Grunde lache ich noch immer darüber und wenn ich sage, ich bin krank, dann verwende ich so'ne Art Spott und Ironie. Die Norm gefällt mir nicht und wurde mir zum Schluss immer unerträglicher. Das Schlimmste daran ist das ständige Bewerten von Menschen, als ob sie nicht alle einzigartige Individuen wären, die ein Recht darauf haben, sie selbst zu sein.