29.03.18, 08:14:58
Antares
Das Autismus-Spektrum zusammen zu legen macht durchaus Sinn, denn die Unterteilungen waren schlicht falsch. Und so viele Identifizieren sich damit, das ist schon schwierig.
Differenzierung im Sein, der Selbsterkenntnis braucht aus meiner Sicht keine Bücher, in denen das steht. Erfassen und Einordnen kann sowieso immer nur die Außensicht:
"Waldenfels meint, dass das vermeintliche “Verstehen” eines anderen Menschen erstens eine Illusion, zweitens eine Bemächtigung und drittens eine Selbstberaubung ist (vgl. Waldenfels 1990, S. 33). “(Eine Illusion), weil es die letzte undurchdringliche Fremdheit und Einsamkeit noch im vertrautesten Umgang leugnet: Was ich vom anderen erfahren kann, ist nie dessen Erfahrung oder Befindlichkeit, sondern immer nur meine Erfahrung dessen, was er oder es von seiner Erfahrung oder Befindlichkeit kundtut oder preisgibt. ... (Eine Bemächtigung weil), es unterwirft den oder das andere unter mein Weltverständnis. ... (Eine Selbstberaubung), denn es bringt mich um die Begegnung mit Fremdem und friert meine Erfahrung auf dem Stand des Bekannten ein” (Waldenfels zitiert nach Gronemeyer 2014, S. 154)."
Ich sehe den Gedanken somit eher wie zitiert und nicht so wie Du. Aber Menschen unterscheiden sich ja auch in ihren Ansichten und wie sie mit etwas umgehen.
Deine Ansicht der Schwierigkeit der Berufung darauf teile ich. Sie ist nur sehr schwer praktizierbar im Bismarck-System. Wir modellieren Konzepte, um Gelder für das Universelle Design irgendwie bei Autisten ankommen zu lassen. Dies hier z.B.:
https://white-unicorn.org/?mod=modellprojekt
Und der 35a) zur Verhinderung zur Behinderung besagt wieder, dass nach ICD beschrieben werden muss, was passiert wenn die Barrieren da sind. Derzeit gibt es kein einziges mir bekanntes Buch zumindest, nach dem ich das vermeiden könnte, um einen Antrag zu stellen.
Eine Diagnose tun zu müssen um das hier zu erreichen:
"Autist - durch Mangel an Universellen Design an Teilhabe behindert
-> Barriereabbau als Selbstverständlich für jedwede Diversität"
Ist ein Widerspruch in sich. Sollte Dir eine Lösung einfallen, bevor ich sie gefunden habe, nur her damit! :) Somit sind die Gedanken die Du Dir machst genau jene, die ich mir auch täglich mache, nur ähnlich, nicht genau die gleichen. Sind ja zwei verschiedene Menschen.
11.04.18, 05:35:25
Zephyr
Ich finde, jeder Mensch braucht Elemente, mit denen er sich von anderen differenzieren kann. Die Frage ist, kann er diese in sich selbst finden, oder braucht er die Außensicht dafür? Das ist eine universelle Frage und betrifft sicherlich alle Menschen im gesamten Spektrum des Menschseins.
Ob man es will oder nicht, werden sich immer ganz von alleine Definitionen bilden, denen sich Menschen zuordnen. Wäre dem nicht so, könnte man einfach nur vom "Mensch-Spektrum" sprechen und all jene Begriffe die eine Gruppe von Menschen beschreiben sparen. Der Begriff Autismus wäre damit ebenso hinfällig.
Daher finde ich es gut und wichtig, dass es Begriffe gibt, denen sich Menschen zuordnen können und eine grob definierte Gruppe beschreiben. Problematisch ist dies nur, wenn es in Schubladendenken ausartet, sich Klischees ausbilden und diverse Gruppen gar stigmatisiert, behindert oder gar gemobbt und verachtet werden. Ich bin z.B. ein Individuum, ein Mensch, ein Autist, ein HFA-Autist, ein Naturliebhaber, ein Künstler, ein Denker, ein Dichter, ein Schriftsteller, ein Programmierer, ein Student, ein ..
Ich bin vieles, aber ich habe für all das Viele jeweils eine kleine Schublade. Ich bin sozusagen wie ein großer Schrank mit vielen kleinen Schubladen. Es ist am Ende natürlich ein Spektrum meiner Selbst, aber ich würde es sehr missen, könnte ich am Ende nur noch von "Spektrum-ICH" sprechen, anstatt jedem Detail meiner Selbst eine kleine Schublade geben und so nach außen auch benennen und mit anderen teilen zu können.
Ich bekenne mich zwar nach Außen nur als Autist, doch weiß ich sehr gut, dass ich eben nicht nur Autist bin, wie jeder andere Autist, sondern anders als viele andere Autisten. Ich unterscheide mich sehr von vielen anderen Autisten und nicht nur weil ich ein Individuum bin, sondern weil ich auch etwas anders ticke wie andere Autisten und eine andere Entwicklung als andere Autisten durchlief.Zwischen Asperger, HFA und Kanner liegt eben doch ein Unterschied, obwohl alle jener Autisten sind, also diesem Spektrum zugeordnet sind. Als HFA hatte ich beispielsweise große Mühe mit dem Sprechen, mit der Artikulation der Worte. Bis heute kann man das noch ansatzweise in meiner verbalen Ausdrucksweise erkennen, wenn ich mich nicht sehr bewusst auf das Sprechen konzentriere. Dies Problem zeigt sich bei Asperger normalerweise nicht. Dafür haben Asperger sehr große Probleme in der Koordination ihres Körpers, welche ich so gut wie nicht habe und hatte. Es gibt Unterschiede und ich empfinde es für sinnvoll, wenn man diese mit einem Wort erst einmal grob benennen kann.
Vom Kleinsten ins Größte differenzieren. Vom Individuum bis ins Spektrum Mensch oder gar Spektrum Lebewesen. Dies schließt nicht aus, vom Autismus-Spektrum zu sprechen, denn es ist ja ein Spektrum. Ich bin nur nicht dafür, mit dem Autismus-Spektrum die Autismustypen ersetzen zu wollen.
Jetzt habe ich etwas viel dazu geschrieben und war teils emotional befangen.
Nun zum anderen thematischen Abschnitt:
Es ist wohl ein Problem des Systems. Du versuchst das System zu nutzen, um die Problematik zu lösen, aber mit dem System kann man die Ursache nicht lösen, weil das System nur Hilfen gewährt, wenn man krank, gestört oder behindert ist. Wenn man behindert wird, ist man nicht behindert, sondern wird behindert, und hat keine Diagnose, die besagt, dass man behindert ist. Die Diagnose wird aber benötigt, um jenen Anspruch durchsetzen zu können, den man braucht, um die selben Chancen zu bekommen, wie jemand, der weder behindert ist noch behindert wird.
Das Problem liegt tief verwurzelt im alten und bis heute gegenwärtigen Schulsystem. Das erkannte ich schon mit 14/15 Jahren und begann damals sogar ein neues Schulsystem zu entwerfen. Die Rohdaten habe ich noch auf der Festplatte und das meiste nur in meinem Kopf gespeichert.
Wenn ich meine damaligen Überlegungen (damals war mir Autismus noch völlig unbekannt) mit den heutigen Erkenntnissen und dem speziellen Problem kombiniere, komme ich auch nur zu dem selben Schluss wie damals, dass es ein anderes Schulsystem benötigt. Es bringt nichts am bisherigen System irgendwie herum zu doktorn, um es für autistische Kinder in Regelschulen etwas angenehmer zu gestalten. Es wird trotzdem nie Autismus- und HSP-freundlich werden können. Allein die Tatsache, dass man 6-10 Fächer parallel unterrichtet, und man eine Klasse wiederholen muss, wenn man nur in einem eine 6 bekommt, spielt gegen die Eigenschaft einiger Autisten, sich lieber auf wenige Gebiete konzentrieren zu wollen, anstatt auf eine große Bandbreite an Themenfeldern. Ich spreche hier aus eigener Erfahrung als früherer Mathe-Genie. In Mathe hätte ich pro Schuljahr 2-3 Klasse absolvieren können, konnte dies jedoch nicht, weil Mathe eben an der Klassenstufe gebunden war. Später musste ich die Fächer, in denen ich sehr gut war (ebenso Mathe, aber auch Kunst und Geschichte) wiederholen, weil ich in den Sprachen eine 5-6 hatte. Ich wurde in meiner Ausbildung in den Fächern, in denen ich gut war und für die ich mich interessierte dadurch behindert, dass ich um weiter zu kommen, ebenso in jenen Fächern ausreichend gut sein musste, die mich nicht interessierten oder mit denen ich nichts anfangen konnte, oder eben auch von meinem Wesen her einfach von Geburt an schon große Schwierigkeiten hatte.
Deswegen entwickelte ich mit 15/16 ein eigenes Schulsystem, welches genau das Problem lösen würde.
Meiner Ansicht und persönlicher Erfahrung nach sollte White Unicorn e.V. dieses Ziel anstreben: Ein eigenes Schulsystem entwickeln und eine "Test-Schule" in die Welt setzen, an der das neue System in der Praxis umgesetzt wird. Jene Schule sollte idealerweise sowohl NA als auch A unterrichten. Dabei sollte ebenso keine Autismus-Diagnose nötig sein, um Autismus-gerecht unterrichtet werden zu können. Das System an für sich sollte bereits Autismus-freundlich sein, was eine Diagnose hinfällig machen würde, wenn es um den Schulunterricht geht.
Ich denke, das ist die einzig zielführende Lösung, wenn es um autistische Kinder geht, die entsprechend ihres Wesens und ihrer anderen Individualität im Vergleich zu NA unbehindert und angemessen/entsprechen gelehrt werden und dabei nicht von anderen Menschen (NA) ausgegrenzt werden sollen.
Ein anderer Weg wäre sich für die Abschaffung der Schulpflicht einzusetzen und gezielt kleine private Unterrichtsgruppen für NA und A einzurichten. Diesen Weg erachte ich jedoch als deutlich schwieriger und es ist fraglich, ob die Abschaffung der Schulpflicht allgemein gut wäre.
Ich kann in der Sache anbieten, mein bisheriges Modell eines autismus-freundlicheren Schulsystems grob darzulegen. Sofern das Ganze mit einem klaren Ziel (Test-Schule) verfolgt wird, mache ich dazu gerne auch ein vollständiges Modell und lege damit all das, was ich bislang nur im Kopf habe, schriftlich und graphisch nieder. Aber das kann dann ein paar Monate dauern, da mein System im Kopf sehr komplex und detailliert ist. Dabei muss sehr viel bedacht und durchdacht werden. Ich habe es daher auch nicht mehr weiter verfolgt. Was bringt schon ein neues/anderes Schulsystem, wenn es keinen interessiert und keine versucht umzusetzen? Nichts. Deswegen liegt es neben meinen groben Plänen von vor ~10 Jahren auf der Festplatte zu großen Teilen tief eingefroren in meinem Kopf.
11.04.18, 07:59:18
Antares
geändert von: Antares - 11.04.18, 08:00:12
Wir sind an den Themen schon dran im Moment. Eine Privatschule wird der White Unicorn e.V. nicht gründen. Es darf nicht vom Geld abhängen, ob ein Autist Barrieren regulierbar bekommt oder nicht. Die ESH hat dazu auch einiges geschrieben: http://autisten.enthinderung.de/agschule/
Mit dem Diagnoseproblem der Störung gebe ich dir uneingeschränkt recht. Für 2020 versuchen wir mit dem Bundesteilhabegesetz daran etwas zu ändern.