Behinderung
15.01.12, 12:22:13
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Ich habe da einfach einen 'Fehler', der mich behindert, ich bin also behindert. Da behindert mich niemand. Ich bin nur nicht perfekt, wie alle.
Wie wenig die Sache noch immer erfasst wird ist schon ernüchternd. Lebewesen sind keine Maschinen und haben keine Fehler. Dieses Denken ist sehr gefährlich, weil es die biologischen Tatsachen ignoriert. Biologische Vielfalt ist grundlegender Teil der Biosphäre. Je nach Rahmenbedingungen können Eigenschaften vorteilig oder nachteilig sein.
Das hat aber auch nichts mit dem Behinderungsbegriff zu tun, um den es hier eigentlich geht, also eben um eine Form der Diskriminierung die an Teilhabe bezüglich der menschlichen Gesellschaften hindert. Sicherlich ist der Begriff der Hinderung sehr alt und kann für alles mögliche verwendet werden. Nur befürchte ich, daß das hier nur zu fortgesetzter Verwirrung führen wird, weil verschiedene Wortbedeutungen einfach gleichgesetzt werden.
Jeder Mensch hat, wie du schon selbst anmerkst, Eigenschaften, die als Stärken oder Schwächen erscheinen können. Das ist ganz normal und hat mit dem Behinderungsbegriff nichts zu tun. Je nach Verteilung von Eigenschaften in der Massengesellschaft werden jedoch Vergleichsmaßstäbe sich erheblich unterscheiden. Es ist ohne Probleme eine Welt denkbar, in der die meisten Menschen z.B. eine bestimmte Sehfähigkeit besitzen und deswegen die Kulturlandschaft der Massengesellschaft auch voll darauf eingerichtet ist. Hier geht es also wieder auch sehr um statistische Verteilungen, so wie jemand der heute als überdurchschnittlich intelligent gilt in einer anderen Welt vielleicht als "geistig behindert" betrachtet werden würde.
Zitat:
Aber viele Behinderungen entstehen auch durch eigene Eigenschaften, unabhängig von der Umwelt.
Wer z.B. nichts hört, ist behindert, auch wenn er alleine ist, unabhängig von der Umwelt.
Nein, ich denke das zeugt davon, daß die Problematik noch nicht ganz erfasst wurde. Nur weil jemand gehörlos ist, ist er nicht an sich als Person behindert. Das kommt nur Menschen so vor, die die heutigen zufälligen Gegebenheiten nicht reflektieren. Nehmen wir etwa an 99% der Bevölkerung könnte sich problemlos auf telepathischem Weg verständigen. Innerhalb dieser Population wäre dann ein Mensch, der in dieser Gesellschaft völlig durchschnittlich ist wahrscheinlich behindert, sofern diese Gesellschaft nicht für umfassendes universelles Design sorgt. Das beweist, daß Behinderung eben nicht an Personeneigenschaften festzumachen ist, denn wäre dem so, müßte eine durchschnittliche Person auch als behindert gelten. Das tut sie in unserer Gesellschaft aber nicht, weil der Behinderungsablauf eben vor allem von den gesellschaftlichen und statistischen Gegebenheiten abhängt.
15.01.12, 20:26:42
drvaust
Ich bin der Meinung, daß jeder irgendwie auf verschiedenen Gebieten behindert ist, durch ungünstige Eigenschaften.
Ich fühle mich manchmal auch dadurch behindert, daß ich nur mit zwei Händen gut greifen kann, im Gegensatz zu z.B. Schimpansen, die mit vier Händen gut greifen können. In dieser Beziehung sind z.B. Hunde, mir gegenüber, sehr behindert.
Anders ist es mit der Einstufung als Behinderter. Das ist eine 'Schublade', die teilweise diskriminierend ist. Da gibt es 'normale Menschen' und Behinderte, obwohl alle irgendwie behindert sind.
Lebewesen sind keine Maschinen und haben keine Fehler.
Warum sollten denn Lebewesen, im Gegensatz zu Maschinen, keine Fehler haben? Überall gibt es Fehler. Bei primitiven Maschinen führen Abweichungen meistens zu Störungen, bei komplizierten Wesen können Abweichungen teilweise zu Verbesserungen führen. Aber in jedem komplizierten System gibt es Fehler, nichts ist perfekt.
Für mich gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Lebewesen und Maschinen, außer der Eigenschaft Leben.
15.01.12, 21:57:16
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Anders ist es mit der Einstufung als Behinderter. Das ist eine 'Schublade', die teilweise diskriminierend ist. Da gibt es 'normale Menschen' und Behinderte, obwohl alle irgendwie behindert sind.
Wenn man die Behinderungsdefinition ignoriert, dann ist das wohl so. Aber Behinderung ist wie bereits erwähnt eben eine Diskriminierung aufgrund letztendlich zufälliger statistischer Faktoren.
Zitat:
Warum sollten denn Lebewesen, im Gegensatz zu Maschinen, keine Fehler haben? Überall gibt es Fehler.
Setzt ein Fehler nicht einen Plan voraus, der nicht ganz erfüllt wird? Für Lebewesen gibt es einen solchen aber nicht wirklich (Biodiversität). Das ist ein Grundprinzip der Stabilität biologischer Systeme.
15.01.12, 22:51:44
Fundevogel
Wenn es bei Lebewesen Fehler geben würde, würde es dann nicht einen Prototyp geben müssen, der perfekt wäre und von dem man ableiten könnte, dass gemessen an diesem andere fehlerhaft sind?
Wenn es diesen Prototyp nicht gibt, kann man nicht von einem mit Fehlern behafteten Menschen sprechen, sondern von Eigenschaften die dem einen oder anderen Menschen zur Verfügung stehen und eine andere Nutzung möglich machen.
16.01.12, 01:22:46
drvaust
Das wird jetzt etwas abschweifend.
Es geht um philosophische Prinzipien.
Wenn Fehler Abweichungen vom Plan oder Prototyp sind, sind Fehler bei natürlichen Lebewesen kaum möglich, außer z.B. bei Zucht. Aber auch bei Maschinen gibt es nicht immer einen Prototyp, aber meistens eine Absicht (Plan).
Ich sehe Fehler auch als Abweichung vom Ideal, Funktionsstörungen usw.. Da grundsätzlich nichts perfekt ist, hat alles irgendwelche Fehler.
Fehler müssen nicht immer schlecht sein. Fehler tragen zur Vielfalt bei und manchmal entsteht aus einem Fehler eine Verbesserung.
;) Mag sein, daß das eine persönliche Besonderheit (Fehler?) von mir ist. Aber mich stört strikte Trennung von Lebewesen und Maschinen, von Menschen und Tieren. Das sind für mich alles verschiedene Formen meiner Umwelt.
17.01.12, 05:06:16
Hans
Meine Schwester hat Übergewicht (160kg bei 1,68m) und einen dicken Hintern.
Meine Mutter sagte immer, sie ist "behintert".
Wenn man allerdings sieht, wie schwer sie sich beim Bewegen tut,
kann man durchaus von Behinderung sprechen.
Wenn sie im Gang steht und ich nicht vorbei komme,
werde ich behindert.
Gäbe es nur so dicke Leute, würde sie nicht auffallen.
In so einer Gesellschaft würde sie nicht als besonders behindert eingestuft.
In einer Gesellschaft von Stabhochspringern wäre sie extrem behindert.
Es ist die Gesellschaft, die es macht, das man behindert sei.
17.01.12, 20:20:09
PvdL
Ob jemand als "behindert" wahrgenommen wird, hängt meiner Einschätzung nach nicht nur davon ab, ob man von der Norm abweicht, sondern auch davon, wie diese Abweichung bewertet wird. Als positiv gewertete Abweichungen werden nicht als Behinderung wahrgenommen, obwohl sich für die Betroffenen beispielsweise auch besonders ausgeprägte Intelligenz als quälend und lähmend auswirken kann. Für die Einschätzung, ob jemand als "behindert" zu gelten habe, wird jedoch die Wahrnehmung des Betroffenen bewußt ignoriert, weil nur objektive Erkenntnis gute Erkenntnis sei. Leider wird Objektivität mit Unwissenheit verwechselt.
17.01.12, 23:35:06
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Abweichungen sind keine Behinderungen.
18.01.12, 06:00:10
PvdL
Ich habe nicht gesagt, daß Abweichungen Behinderungen seien, sondern daß Behinderungen Abweichungen seien und zwar von einer mehrheitlich als normativ erachteten körperlichen Verfassung. Wie sehr sich diese Abweichungen als Einschränkung hinsichtlich der persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten des betroffenen Individuums erweisen, hängt genau von den Umständen ab, die sich daraus ergeben, ob man behindert wird oder nicht.
18.01.12, 11:56:31
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Keine Abweichung von Personeneigenschaften ist eine Behinderung.
18.01.12, 22:54:27
PvdL
Ich bin zuversichtlich, daß ich diesen Aphorismus verstehen könnte, wenn Du ihn freundlicherweise ein wenig erläutern könntest.
18.01.12, 23:09:05
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daß Behinderungen Abweichungen seien und zwar von einer mehrheitlich als normativ erachteten körperlichen Verfassung.
Das ist falsch, die Behinderung ist nicht die statistische Abweichung, sondern das Vorhandensein von Barrieren.