Menschen mit Behinderungen [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] werden in Deutschland ausgegrenzt und in Sonderschulen, Werkstätten und Heime abgeschoben. Nun tritt eine Uno-Konvention in Kraft, der ein radikales Umdenken folgen müsste. Doch die Bundesregierung signalisiert: Alles soll so bleiben, wie es ist.
Als Carolin aussortiert wird, ist sie drei Jahre alt. Ein Amtsarzt stellt bei ihr "sonderpädagogischen Förderbedarf" fest, weil das Mädchen noch immer nicht laufen kann. Die Eltern freuen sich. Die Krankengymnastik, die der Mediziner verschreibt, tut ihrer Tochter gut.
Sie können nicht wissen, dass sie an diesem Tag das Schicksal ihres Kindes aus der Hand geben. Das Gutachten ist von nun an untrennbar mit dem Leben der Tochter verbunden. Carolin ist gekennzeichnet, die zweite Wahl, wie fehlerhaftes Porzellan.
"An diesem Tag ist die Aussonderungsmaschinerie angelaufen, wir haben das damals nur noch nicht begriffen", sagt Inge Kirst, Carolins Mutter. Wie hätte sie auch ahnen sollen, dass ein Mensch mit "sonderpädagogischem Förderbedarf" sein Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft, sein Recht auf Bildung, sein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben verloren hat?
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Seit acht Jahren besucht Carolin eine Sonderschule für Körperbehinderte. Das Schulamt hat das "nach Aktenlage" bestimmt. Kinder mit "sonderpädagogischem Förderbedarf" werden diesen Schulen auch gegen den Willen der Eltern zugewiesen, "zu ihrem Besten, für eine optimale Förderung", wie das Schulamt betont. "Wir fördern jedes Kind nach seinen Möglichkeiten", haben auch die Lehrer versichert. Inge Kirst weiß inzwischen, dass das nicht stimmt.
Wer in Deutschland die Sonderschule besucht, hat seine Chancen auf einen akademischen Abschluss praktisch verloren. In dieser Schulform, die sich heute Förderschule nennt, erreichen 0,2 Prozent aller Schüler das Abitur. 77 Prozent von ihnen schaffen nicht einmal den Hauptschulabschluss. Ein Grund: Der Wechsel von der Förder- in die Regelschule findet so gut wie nie statt. Wer die Sonderschule absolviert, darf sich auf ein Berufsleben in der Behindertenwerkstatt freuen.
Carolin teilt ihr Schicksal mit 84 Prozent aller Kinder mit "sonderpädagogischem Förderbedarf" - ob taub, blind, lern-, geistig- oder körperbehindert, sie alle landen auf der Sonderschule. Im internationalen Vergleich ist Deutschland damit Europameister im Aussortieren. Im EU-Durchschnitt lernen rund 80 Prozent der
Kinder mit Behinderung [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] an Regelschulen. Italien hat die Sonderschulen abgeschafft.
Die Folgen dieser Ausgrenzung sind bei Carolin nicht zu übersehen. "Sie wird von Jahr zu Jahr trauriger und unsicherer", sagt ihre Mutter. Das Mädchen fühlt sich unterfordert und allein. Jeden Tag karrt ein Taxi es quer durch Ostwestfalen. Die Sonderschule liegt 40 Kilometer entfernt, die meisten Mitschüler wohnen noch weiter weg. Verabredungen nachmittags zum Spielen sind da nicht drin.
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Es gibt einen wachsenden Druck zur Optimierung der menschlichen Natur, zur Steigerung körperlicher und geistiger Fähigkeiten. Die Bilder menschlicher Perfektion, die in den Medien transportiert werden, entfalten eine normative Kraft. In einer Zeit geprägt von Perfektionssucht, Doping und Schönheitschirurgie, haben
Menschen mit Behinderungen [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] keinen Platz. Seit der Radikaleugenik der NS-Zeit spricht in Deutschland zwar so gut wie niemand mehr von "lebensunwertem Leben". Aber die Ansicht, dass
Menschen mit Behinderung [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] die Gesellschaft belasten, ist weit verbreitet.
Mit "der Art der Geräusche" begründete ein Richter sein Urteil, das einer Wohngruppe von sieben geistig behinderten Menschen vorschrieb, sich nur noch zu festgelegten Zeiten im Garten aufzuhalten. Ein Flensburger Gericht sprach Hotelgästen eine finanzielle Entschädigung zu, weil sie im Urlaub gemeinsam mit behinderten Menschen hatten speisen müssen. Und im Stuttgarter Stadtteil Muckensturm klagten Anlieger gegen ein Heim, weil sie Lärmbelästigung, tätliche Übergriffe und den Wertverlust ihrer Häuser fürchteten.
Ursachen für die Ablehnung sind häufig Unsicherheit und die Angst vor dem Fremden. Nur wenige haben Kontakt zu
Menschen mit Behinderung [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff], sei es im Sandkasten, am Tresen oder am Arbeitsplatz. Dabei leben in Deutschland 6,9 Millionen Menschen mit einem Behinderungsgrad von 50 Prozent und mehr. Jeder Zwölfte ist im Sinne der Sozialgesetzgebung "schwer behindert". Und doch sind sie fast unsichtbar.
Menschen mit Behinderung [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] werden in Heimen gesammelt und in Werkstätten abgeschoben.
Betroffene, Behindertenverbände und Fachpolitiker hoffen nun auf eine Wende. Denn Anfang dieses Jahres tritt ein Gesetz in Kraft, das auf 40 Seiten eine Revolution formuliert: das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff].
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Selbst wenn Paula gegen alle Widerstände das Abitur schaffen sollte, wird es nicht leicht für sie sein, einen Job zu finden. "Manche Unternehmen versuchen behinderte Mitarbeiter gezielt loszuwerden", sagt Dorothee Czennia, sozialpolitische Referentin beim Sozialverband VdK.
Fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze müssten Firmen, die 20 Mitarbeiter und mehr beschäftigen, an
Menschen mit Behinderung [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] vergeben. Mehr als drei Viertel aller privaten Betriebe in Deutschland kommen dieser Pflicht schon jetzt nicht in vollem Umfang nach. Bei gut 30 000 beschäftigungspflichtigen Unternehmen arbeitet kein einziger Schwerbehinderter.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ist es auch, die vor einer "übereilten Ratifizierung" der Uno-Konvention ausdrücklich warnt. In einer Stellungnahme im Parlament gab der Verband zu Protokoll, es sei zu prüfen, "ob mit dem Übereinkommen die in Deutschland bereits bestehende Überregulierung im Bereich des Behindertenrechts weiter verschärft würde. Wäre dies der Fall, müsste dieser Gefahr wirksam - durch die Anbringung entsprechender Vorbehalte - begegnet werden".
Die Arbeit der Lobbyisten ist nicht ohne Folgen geblieben. Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD), der noch Ende September auf einer Festveranstaltung zu Ehren der Konvention das Gesetz als "großen Fortschritt in der Menschenrechtspolitik" pries, legte wenige Tage später schriftlich eine Kehrtwendung hin. Auf die Anfrage des behindertenpolitischen Sprechers der Grünen, Markus Kurth, antwortete das Scholz-Ministerium, "dass die derzeitige deutsche Rechtslage ... den Anforderungen des Übereinkommens entspricht".
Mit anderen Worten: Alles soll so bleiben, wie es ist.