Zitat:
Noch einmal: Sie arbeiten mit Vorzeige-Behinderten, sozusagen. Warum nicht ein mutiges Zeichen setzen mit namenlosen Gesichtern?
Ich weiss nicht, was Sie von mir hören wollen . . .
Eine ehrliche Antwort, idealerweise.
Die Wahrheit ist: Besetzung ist alles. Ich arbeite deshalb immer mit den besten Schauspielern, die ich kriegen kann. Das Theater Hora ist das einzige professionelle Behinderten-Ensemble der Schweiz. Ich könnte natürlich auch «namenlose Gesichter» auf die Bühne setzen, wie Sie vorschlagen. Das wäre aber reiner Voyeurismus und zudem vom künstlerischen Resultat her katastrophal. Ich bin weder Sozialarbeiter noch Zirkusbetreiber.
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Förderoasen zum einen, Abtreibung zum anderen, wir sind also Heuchler von Gottes Gnaden und leben gut mit unserer Doppelmoral. Pier Paolo Pasolini war gegen jede Form von Moralismus. Er war auch gegen Abtreibung. Wie stehen Sie zu beidem?
Pasolini ist für mich ein Künstler, der seine Zeit in ihrer Widersprüchlichkeit gedacht hat. Ein Zitat von ihm stand zehn Jahre lang über meinem Blog: «Ich weiss sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.» Das schliesst wohlfeilen Moralismus aus. Nehmen wir das Beispiel der Abtreibung von behinderten Föten: Wenn man als Liberaler darüber nachdenkt, denkt man zuerst an Selbstbestimmung. Aber dann blinzelt hinter der Liberalität auf einmal dieser eiskalte Narzissmus der Leistungsgesellschaft hervor. Für mich ist die Pränataldiagnostik Ausdruck eines Normalisierungswahns. Das unterscheidet sich von der Eugenik der dreissiger Jahre nur noch in der Rhetorik, die Nazis waren immerhin ehrlich. Kurzum, ich treffe mich in vielem mit Pasolini: in seinem Vitalismus, in der Verbindung von Polemik und Liebe zur Schönheit, vor allem aber in seiner unbedingten, altmodischen Ernsthaftigkeit. Deshalb fand ich auch Ihre erste Frage abwegig.