Zitat:
Lustlos steht Tamer, der Wachmann, vor dem Flüchtlingsheim. Es nieselt, ein trüber Tag. In dem Gebäude leben rund 300 Asylbewerber in Zwei- bis Vier-Bett-Zimmern. Drei von ihnen sitzen in der Heimküche.
Juden? Kontrollieren die Medien. Im Westen, aber auch in Russland und Iran. Sagt Ahmed, drahtig, 20, aus Syrien.
Schwarze? Einige „Affen“ seien nett, die meisten eine Plage. Sagt Mohammed, gut genährt, Anfang 20, aus Ägypten.
Homosexuelle? Widerlich, ginge es nach Gott, sollten sie nicht leben. Sagt Abdul, hager, 30, aus Afghanistan.
Unaufgeregt, freundlich, sanft erklären die drei Männer: Frauen gehorchen dem Mann. Schläge seien erlaubt, aber unnötig. Frauen wollten ja gehorchen.
Besuche in Asylunterkünften müssen eigentlich angemeldet werden. Weil es aber um ziemlich Betrübliches geht, scheint an diesem Tag ein Gespräch ohne Heimleiter ratsam. Es geht um die Ansichten von Asylbewerbern, die nicht zum Bild passen, das sich wohlmeinende Bürger von Flüchtlingen machen. Ist es nach Clausnitz, nach unzähligen Brandanschlägen legitim, über Hass und Vorurteile von Flüchtlingen zu sprechen?
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Dass Ahmed an diesem Tag über seine Ansichten spricht, hat mit einem Tetra Pak zu tun. Vor einigen Wochen hat er mit Kugelschreiber einen Galgen auf den Tetra Pak gekritzelt. An dem Galgen hing ein gemalter Davidstern. Eine Arabisch-Übersetzerin, selbst Tochter libanesischer Exilanten, sah das. Sie wollte deutlich machen, womit sie seit Jahren zu tun hat, und fragte Ahmed, Mohammed und Abdul, ob sich ein Reporter mit ihnen unterhalten darf.
Was die drei sagen, wird größtenteils übersetzt. Sie sprechen kein Englisch, allerdings schon ein paar Brocken Deutsch. Juden, sagt Ahmed, seien für das Elend dieser Welt verantwortlich. Sie hätten die Massaker von Paris angezettelt und den Muslimen untergejubelt: „Weil Frankreich zuvor Palästina anerkennen wollte!“
Juden stützten auch Baschar al Assad. Der sei kein Muslim. Tatsächlich ist Syriens Präsident Alawit, eine Spielart des Islam. Ahmed weiß es besser: Nur Sunniten – wie er – seien Muslime, auch Schiiten und Drusen seien Verräter, Zionisten, Teufel. Und Gewalt gegen Teufel sei legitim.
Ahmed – Trainingsjacke, Jogginghose, Flip-Flops – stammt aus einem Dorf in Nordsyrien und sollte Handwerker werden. Auf Wunsch der Familie floh er vor ein paar Jahren in die Türkei, verrichtete Hilfsjobs, bevor er 2015 über den Balkan nach Deutschland kam. „Die Deutschen“, sagt Ahmed, „haben alle ein Auto.“
Die Vorarbeiter in der Türkei hätten gesagt, man brauche in Deutschland einen wie ihn. Einen, der anpacken könne. Sie hätten den Kontakt zu dem Mann hergestellt, der ihm einen Platz auf einem Boot nach Griechenland verkaufte. Ahmed wundert sich nun in Berlin, warum ihm niemand einen Job anbietet. Auf dem Flur habe er erfahren, dass die Deutschen Juden lieber mögen als Araber.
Ahmed erzählt nicht, ob er in Syrien gekämpft hat. Sein Dorf sei jedenfalls lange von der Al-Nusra-Front regiert worden. Das seien anständige Menschen gewesen, sagt er. Die Al-Nusra-Front steht Al Qaida nah, viele ihrer Kämpfer schlossen sich dem „Islamischen Staat“ an.
Ahmed wünscht sich Arbeit, Frau und Kinder. Seine Frau, die noch zu finden wäre, müsse Jungfrau sein. Und … – Mohammed aus Ägypten mischt sich ein: Stimme es, dass deutsche Frauen nackt in der Sonne lägen? Ja, einige tun das, an der Ostsee gibt es Strände für Nackte. Mohammed ist skeptisch: Wieso dürfen die das, wo sind deren Männer!?
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Dass viele Frauen ihren Mann nicht selbst auswählen, sondern deren Väter das tun, stört Mohammed nicht. Sind solche Ansichten verbreitet?
Die Übersetzerin sagt: Ja – wobei es „enorme Unterschiede“ gebe. In der Syrisch-Orthodoxen Kirche in Tiergarten sitzt ein paar Monate zuvor Amill Gorgis beim Tee. In Syrien geboren, lebt der Ingenieur seit 1970 in Deutschland. Er sagt: „Viele bringen überhaupt keine demokratischen Prinzipien mit.“ Wer unter Sittenwächtern groß wird, hinterfragt Dogmen selten. Da reichten die deutschen Gesetze nicht, sagt Gorgis, da müssten Kultur und Bildung gesellschaftlichen Integrationsdruck erzeugen. Gorgis schlägt vor, Flüchtlinge sollten einmal die Woche ehrenamtlich helfen.
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„Zum Müllaufsammeln bückt sich keiner“, sagt eine Helferin. „Manche haben eine Herrenmenschenattitüde.“ Es gebe Halbwüchsige, die beschwerten sich so laut über nicht genehme Speisen, als gebe es ein Recht auf Kobe-Rind.
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Abduls Frau, mit Kopftuch, und die Tochter setzen sich dazu. Abdul sagt, in Kabul habe man ihm erzählt, in Deutschland gebe es 3000 Euro Begrüßungsgeld. Der Mann, der ihm vom Begrüßungsgeld berichtet habe, sei angesehen – Tamer übersetzt es mit: ein Mann, dem viel gehört – ihm könne man glauben. Verweigere ihm die deutsche Regierung sein Geld?, will Abdul wissen.
Wenn er erst mal eine Wohnung hat, will Abdul mehr Kinder. Und die Tochter soll heiraten. Mit 14, 15. Was, in Deutschland dürfen Frauen nackt am Strand liegen, Mädchen aber nicht heiraten?
Es gibt Mittagessen. Abduls Frau hat gekocht. Der Syrer und der Ägypter sind eingeladen. In den kommenden Monaten wird sich in ihrem Leben wenig ändern. Ohne Perspektive wärmt man sich leicht an den eigenen Ressentiments. Sollten für Neuankömmlinge die gleichen Maßstäbe gelten wie für Alteingesessene, dann jedenfalls säßen in dieser Heimküche drei Rechtsextreme.
Zitat:
Als diese Geschichte im Sommer 2014 ihren Anfang nahm, war noch nicht absehbar, zu was für einem Schlamassel sie sich auswachsen würde: Damals war einem Mann, der vermutlich aus dem Kongo stammt und als vorläufig Aufgenommener in der Schweiz lebt, für die Dauer von zwei Jahren verboten worden, das Gebiet der Stadt Zürich zu betreten. Warum dieses Verbot ausgesprochen wurde, ist nicht bekannt. Doch der Mann hielt sich nicht daran. Und wurde dabei immer wieder erwischt.
Im Dezember 2014 wurde er ein erstes Mal per Strafbefehl wegen der sogenannten Missachtung der Ausgrenzung sowie wegen einfacher Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 180 Tagen verurteilt. Weitere Verurteilungen wegen Missachtung der Ausgrenzung folgten 2015 am 15. Februar, 23. März, 15. April und 19. April. Jedes Mal stieg die Strafe an: 45, 60, 90, 120 Tage. Jeweils unbedingt.
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Das Bundesgericht hingegen hatte für die von einem Nichtjuristen verfasste Beschwerde ein offenes Ohr. Nun zeigte sich der ganze Schlamassel dieses Falles. Das Bezirksgericht, das sich mit der Einsprache gegen den Strafbefehl vom 13. März befassen musste, hatte die Verhandlung sistiert: Es bestünden nicht nur ernsthafte Zweifel an der Schuldfähigkeit des Mannes. Sein Verhalten deute auch darauf hin, dass er nicht verstanden habe, was ihm vorgeworfen wird. Ein Gutachter müsse zuerst abklären, ob der Mann für die Missachtung der Ausgrenzung überhaupt bestraft werden könne.
Zudem scheint klar, dass die Verfahren gegen den Mann nicht korrekt abliefen. Obwohl eine Gesamtstrafe von über einem Jahr drohte, war er nicht verteidigt. Dies wäre auch notwendig gewesen, weil sein geistiger Zustand ihm verunmöglichte, seine Interessen wahrzunehmen. Denn laut einem Arztbericht verfügt der Mann, der schon in einer psychiatrischen Klinik untergebracht war, über einen sehr unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten von 60.