Zitat:
Nach dem Blutbad in einer Redaktion den Schluss nahezulegen, die ermordeten Kollegen hätten eine allzu riskante Geschäftspolitik verfolgt, ist eine Gedankenlosigkeit. Sie ist kennzeichnend für die Verlegenheit, in der sich die liberalen Leitmedien nach dem Pariser Fanal des islamischen Terrorismus befinden: Sie müssen ihrem Publikum erklären, was es mit „Charlie Hebdo“ auf sich hat, dem Organ einer satirischen Militanz, für die es in der amerikanischen Medienlandschaft kein Pendant gibt.
Die Erbeverwalter des aufklärerischen Anspruchs, die großen Blätter und die Fernsehanstalten, erschweren sich diese Erklärungsarbeit, indem sie im Unterschied zu beliebten Internetmedien davon absehen, die Titelbilder mit dem Gast-Chefredakteur Mohammed zu zeigen. Sie versagen den Arbeiten der Toten, die sie als vulgär und krude beschreiben, die Chance, für sich selbst zu sprechen. Die Probe auf den Evidenzeffekt der Satire unterbleibt.
Wenn amerikanische Chefredakteure von der Pressefreiheit reden, geht es nie ohne Eigenlob ab. Dass „Washington Post“ und „New York Times“ im Vietnamkrieg Geheimpapiere aus dem Pentagon druckten, gilt als Ruhmesblatt, das nicht verwelken kann. Aber nachdem jetzt Karikaturisten und Redakteure, ein Korrektor und zwei Polizeibeamte für die Freiheit der Presse gestorben sind, erwecken die Weltblattmacher den Eindruck, dass ihnen das Presseerzeugnis, an dem die Mörder Anstoß nahmen, peinlich ist. Von den Nachrichtenseiten werden die Pariser Karikaturen verbannt, mögen auch Leitartikler verkünden, der barbarische Angriff gelte allen Journalisten und Lesern.
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Setzt sich hier ein Unterschied der Nationalcharaktere durch, der Gegensatz von Puritanismus und Libertinismus?
Dagegen spricht ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten aus dem Jahr 1988. Die Richter hatten über ein satirisches Machwerk in der Art der Prophetenkarikaturen von „Charlie Hebdo“ zu entscheiden. Der evangelische Prediger Jerry Falwell, Stifter der reaktionären Gemeinde mit dem Namen der „Moralischen Mehrheit“, hatte die pornographische Zeitschrift „Hustler“ verklagt. In einer Parodie auf eine Campari-Anzeige mit der Überschrift „Mein erstes Mal“ wurde Falwell die Schilderung eines Inzests mit seiner Mutter in den Mund gelegt. Wie das Gericht feststellte, lag eine Verleumdung nicht vor, weil kein Leser die phantastische Erfindung für wahr halten konnte. Die Satire diente dem Zweck, das von Falwell verkörperte Christentum als Perversion im übertragenen und umfassenden Sinne zu denunzieren. Einstimmig verweigerten die acht am Verfahren beteiligten Richter den verletzten Gefühlen Falwells den Schutz des Rechts – im Interesse eines denkbar robusten Verständnisses von Meinungsfreiheit. Gerade die anstößige Meinung, führte der konservative Gerichtsvorsitzende William Rehnquist aus, benötigt und verdient den Schutz der Verfassung. Die Kränkung („offense“), die „New York Times“ und „Washington Post“ in Religionsdingen um jeden Preis vermeiden wollen, ist demnach nicht bloß hinzunehmen, sondern fördert die Scheidung der Geister.
Rehnquist, ein belesener Mann, machte sich das Vergnügen, in die Urteilsgründe eine kleine Geschichte der politischen Satire in den Vereinigten Staaten einzuflechten und die Karikatur als Prototypen der „absichtlich verletzenden Rede“ zu beschreiben. Seine Beispiele für Karikaturen, die ihre Wirkung taten, weil sie systematisch die Grenzen des guten Geschmacks überschritten, entnahm er dabei dem neunzehnten Jahrhundert.
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In den Vereinigten Staaten gibt es Antikatholizismus, aber keinen Antiklerikalismus, weil die Amerikanische Revolution sich nicht gegen eine Staatskirche richtete. So kann dann der Bund von Thron und Altar auch nicht durch den Bund von Staat und Satire ersetzt werden. Larry Flynt, der Verleger des „Hustler“, ist seit einem Attentat 1978 gelähmt. Wenn christliche Terroristen die Redaktion der Zeitschrift ausgelöscht hätten, wäre Flynts Recht auf Blasphemie von den staatlichen Autoritäten verteidigt worden. Aber es ist undenkbar, dass der Präsident den Tatort aufgesucht hätte.
Hinter den trotzigen Bekenntnissen der amerikanischen Presse zur schrankenlosen Meinungsfreiheit ist eine Katzenjammerstimmung zu spüren. Von der Regierung Obama fühlt man sich verfolgt, aber alle Proteste konnten nicht verhindern, dass James Risen, ein Reporter der „New York Times“, nun vor Gericht nach seinen Quellen befragt wird. Dass die maßgeblichen Organe sich im Jahrzehnt nach dem 11. September 2001 immer wieder Bitten der Regierung fügten, Berichte über die Folter- und Abhörpraktiken zu unterdrücken, gilt den Verantwortlichen im Rückblick als verheerend. Niemand erwartet, dass die „New York Times“ einem Überlebenden von „Charlie Hebdo“ einen Kolumnenplatz zwischen Paul Krugman und Tom Friedman freiräumt. Aber hätte sie ihre viktorianischen Sprachregelungen nicht suspendieren können, um zu dokumentieren, was in Paris geschehen ist? Dass die wahre Obszönität der mörderische Fanatismus ist, wird so verleugnet.