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Über "Laster" zu schreiben, sie in eine Reihenfolge der Schwere der Vergehen bringen zu wollen, mutet eigentümlich altmodisch an. Man findet sich erinnert an traditionelle christliche Aufzählungen von "Hauptlastern" – Wollust, Völlerei, Faulheit etwa, die in einer hedonistischen Gesellschaft längst eingemeindet sind ins ganz normale Genussverhalten.
Judith Shklar (1928-1992), die im englischsprachigen Raum als eine der maßgeblichen politischen Philosophinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt, grenzt sich in ihrer Liste der "Ganz normalen Laster" klar ab vom christlichen Kanon: Die von ihr abgehandelten schlechten Charaktereigenschaften sind Grausamkeit, Heuchelei, Snobismus, Verrat und Misanthropie. Um die Frage, welche dieser am Schwersten wiegt, geht es ihr allerdings auch. Denn für Shklar sind Laster nicht nur individuelle Sünden.
Die Frage, welche Laster eine Gesellschaft verurteilt, ist eine Frage nach der politischen Ordnung dieser Gesellschaft.
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Es ist nicht zu leugnen, dass Misanthropie ausgesprochen zerstörerische politische Fähigkeiten mit sich bringt. Im Bemühen um eine neue und vervollkommnete Menschheit dazu zu gelangen, die Menschen zu hassen - schließlich gibt es ja genügend von ihnen - oder das Menschengeschlecht bereinigen zu wollen, bis nur noch die Starken und Edlen übrig sind: Das sind die Vorhaben, über die wir mittlerweile alles wissen, was wir wissen müssen. Und der private Misanthrop, der die Fehler und Schwächen seiner Nachbarn nicht ertragen kann, ist sowohl ein schlechter Freund als auch ein Haustyrann in seinem kleinen Reich. Hier macht erneut die Anordnung der Laster einen Unterschied. Wenn man die Grausamkeit als unheilvollstes Laster wertet und an erste Stelle setzt, wird man in der Schlussfolgerung sorgsam darauf bedacht sein, seinen Menschenhass im Zaum zu halten, um aus ihm keinen Zorn werden zu lassen. Trotzdem verdankt der Liberalismus der Misanthropie sehr viel, genauer: jene Veranlagung zum Misstrauen, dass Staatsbeamte, ganz gleich in welcher Zahl, zu mehr in der Lage sein könnten, als lediglich die rohesten Formen von Gewalt und Betrug in einem strengen rechtlichen Rahmen zu beschränken. Misanthropie ist selbst ein Laster, über das Liberale nachdenken müssen, besonders, wenn sie seinen bedrohlicheren und zynischeren Ausprägungen nicht erliegen wollen. Würde man Unaufrichtigkeit oder Verrat an erste Stelle setzen, ginge jede automatische Zurückhaltung gegenüber dem Zorn verloren, der in der frühen Neuzeit und wieder in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ungezügelte Ausbrüche gewalttätigen Menschenhasses hervorgebracht hat.