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In kaum einer anderen Esskultur genießt das Frühstück einen so hohen Stellenwert wie in der deutschen. Es gilt als die wichtigste Mahlzeit des Tages – eine scheinbar unumstößliche Ernährungsdoktrin. Dramen spielen sich ab, weil Mütter ihre Kinder nicht ohne Frühstück aus dem Haus lassen. Wer morgens nichts esse, schade regelrecht seiner Gesundheit, heißt es. Aber stimmt das wirklich? Und haben Menschen schon immer gefrühstückt?
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"Die Vielzahl verschiedener Ausbrüche am Zahnschmelz lässt vermuten, dass vor drei bis vier Millionen Jahren vielfältiger gegessen wurde als heute", sagt der Paläoanthropologe Ottmar Kullmer von der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung. Während Nüsse – das "Getreide der Steinzeit" – und Rinden große Ausbrüche an Zähnen verursachten, hinterließen Blätter, Gräser und andere Pflanzen nur kleine Kratzer.
Was der Urmensch gegessen hat, lässt sich also einigermaßen rekonstruieren. Aber ob er gefrühstückt hat, ist schwieriger zu sagen. Wahrscheinlich ist es jedoch nicht: Forscher gehen davon aus, dass die ersten Menschen gar keine geregelten Mahlzeiten kannten.
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Erst die Entdeckung des Feuers vor etwa 1,5 Millionen Jahren, so vermuten Paläoanthropologen, veränderte die Ernährungs- und Lebensweise. Die Urmenschen sammelten das Feuer aus Buschbränden und Blitzeinschlägen, errichteten Feuerstellen und wurden sesshaft. Ihre Nahrung vertilgten sie nicht länger roh auf der Pirsch, sondern garten und aßen sie im Verband. Das Essen am Feuer wurde zum sozialen Akt. Auch Mahlzeiten, ja sogar frühstücksähnliche Situationen wären möglich gewesen. Aber da die Urmenschen am Tag Tiere jagten oder Früchte sammelten, halten Experten es für wahrscheinlich, dass sie vor allem abends am Wärme und Sicherheit spendenden Feuer speisten – und mit leerem Magen in den Tag starteten.
Für die Jagd waren sie dennoch gerüstet. Das behauptet zumindest Christoph Raschka, Allgemeinmediziner und Sportwissenschaftler an der Universität Würzburg. Raschkas Forschungsschwerpunkt ist die Leistungsphysiologie. Aus seiner Sicht hat das Frühstück keinen Sinn. Er begründet seine These mit den Vorgängen im Körper bei Nacht. Während des nächtlichen Fastens greift unser Organismus auf die kurzfristigen Energiespeicher in Leber und Muskeln zurück. Er setzt die Hormone Cortisol und Adrenalin frei, die Energie zum Aufstehen und Bewegen bereitstellen, und mobilisiert Glukose. Die dient im Blut als Treibstoff für die bevorstehenden Anstrengungen des Morgens. Ein evolutionsbiologischer Trick: So konnte der Urmensch – in einer Welt ohne Vorratshaltung – erst einmal auf die Pirsch gehen, um Nahrung zu beschaffen. Der Mechanismus ist laut Raschka auch in unseren heutigen Körpern noch intakt. Insofern müssten auch wir eigentlich nicht frühstücken.