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Die Historikerin Tanja von Fransecky hat die vergessenen Fluchtversuche in einer umfangreichen Studie erstmals systematisch dokumentiert. Am 21. März wird der Band mit dem Titel "Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden" im Metropol-Verlag erscheinen. Als Fransecky 2006 zufällig die Geschichte eines Überlebenden hörte, war sie selbst "ziemlich erstaunt, dass es so etwas überhaupt gab", sagt sie SPIEGEL ONLINE. "Bis dahin war mein Bild gewesen, dass die Waggons in den Deportationsbahnhöfen verrammelt und bei Ankunft wieder geöffnet wurden - und dazwischen nichts passierte."
Doch "dazwischen", so fand die Historikerin heraus, spielten sich lange verschwiegene Dramen ab. Verzweifelte versuchten stundenlang, mit in die Waggons geschmuggelten Werkzeugen Fensterluken aufzubrechen, Löcher in die Wände zu sägen oder Gitterstäbe zu verbiegen. Nicht selten wurden sie daran von anderen Juden gehindert, die eine Flucht für unverantwortlich hielten. Was würde mit den Alten und Kranken werden, die nicht springen konnten? Hatten die Deutschen nicht gedroht, alle zu erschießen, wenn bei der Ankunft auch nur einer fehlte? War es nicht besser, Zwangsarbeit zu verrichten, als das Leben aller zu riskieren? Die Fluchtwilligen entgegneten: Sie werden uns sowieso umbringen! Es ist unsere einzige Chance! Wir haben ein Recht auf Freiheit! Es kam zu Diskussionen, Handgreiflichkeiten, Panik. Manchmal schrien die Skeptiker laut los, um die Zugwachen zu alarmieren. Manchmal wurden sie überwältigt, geknebelt oder niedergeschlagen.
"Die Situation in den Waggons war nicht nur wegen der katastrophalen hygienischen Verhältnisse extrem entwürdigend", sagt Historikerin Fransecky. "Die Flucht stürzte viele in ein tiefes moralisches Dilemma, wenn sie etwa Angehörige zurückließen. Das dürfte ein Grund sein, warum viele Überlebende nach dem Krieg jahrzehntelang schwiegen."