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Autor Nachricht
Lyra
(Standard)

Hallo,

ich bin Sprachwissenschaftler und interessiere mich dafür, wie es geht, dass man Wörter oder Sätze, die für sich eine bestimmte Bedeutung haben, in einer angemessenen Situation mit einer ganz anderen Bedeutung verwenden kann, ohne das es dabei -- für die meisten Sprachbenutzer -- zu größeren Verständnisproblemen kommt.

In der Literatur zum Sprachverstehen bei autistischen Sprachbenutzern findet sich immer wieder die Feststellung, dass viele Autisten ironische Äußerungen oder auch Äußerungen mit metaphorisch gebrauchten Ausdrücken oft nicht als solche erkennen. Mich interessiert, wie es mit dem Verstehen anderer Formen von nicht-wörtlicher Sprache aussieht. Zum Beispiel Metonymien, also wenn Wörter benutzt werden -- nicht mit ihrer eigentlichen Bedeutung, aber mit einer abgeleiteten Bedeutung, die mit der ursprünglichen Bedeutung zusammenhängt.

Die Schule hat angerufen. ("eine mit der Institution Schule assoziierte Person")
Afrika hungert. ("Die Bewohner Afrikas")
Maria liest gern Tolkien. ("Bücher des Autors")

Kann jemand seine eigenen Erfahrungen dazu mit mir teilen?

Hintergrund meiner Frage ist die Tatsache, dass ich überlege ein Forschungsprojekt zu entwickeln, welches sich dem Verstehen nicht-wörtlicher Sprache bei autistischen Sprachbenutzern widmet, dabei aber solche Phänomene einbezieht, die bisher in dieser Sprachbenutzergruppe nicht erforscht worden sind. In diesem Zusammenhang ist es natürlich auch interessant zu erfahren, ob diese konstatierten Schwierigkeiten beim Verstehen nicht-wörtlicher Sprache von Autisten selbst überhaupt als hinderlich in der täglichen Kommunikation empfunden werden. (Das wird ja in der Forschung meistens unterstellt.)

Für alle unter den Forumsnutzern auf die es überhaupt zutrifft, dass sie Schwierigkeiten haben nicht-wörtlich benutzte Sprache als solche zu verstehen: könntet Ihr mir dazu Eure Meinung sagen?

Und noch eine letzte Frage: Ist es denn überhaupt so, dass (viele) Autisten prinzipiell mit der nicht-wörtlichen Verwendung von Sprache nicht zurecht kommen? Ich weis zumindest von einem (Asperger) Autisten, dass er selbst sogar gern und regelmäßig Sprache metaphorisch benutzt.

Danke.
27.09.13, 10:59:11
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sayo
(Fettnäpfchenhüpfer)

Die letzten Beispiele zu verstehen bereitet mir keinerlei Probleme, ich habe auch keinerlei Probleme mit Bildern, wenn jemand sagte meine Freundin ist für mich wie eine edle Schokolade, verstünde ich das sofort, solche Bilder gebrauche ich auch oft.

Aber eine Freundin sagte einmal am 1. April sie sei beim Aldi gewesen und habe sich als Sonderangebot ein Luftschloß gekauft, dies verstand ich nicht, ich dachte, sie habe sich irgendetwas mit Luft gefüllt gekauft, solche Witze mag ich auch nicht.
Meine Freundin mußte mir dies erst erklären.
Früher waren einmal die Bustiers Mode, jemand nannte sie dann Bus- Tier, das verstand ich auch nicht, und es ärgerte mich, *Achtung, ich übertreibe* in meiner Vorstellung gehört sich so etwas nicht, mit Worten spielt man nicht.
Und obwohl ich mich für sehr sprachbegabt halte, finde ich keinerlei Gefallen an solchen Spielen wie Scrabble.
27.09.13, 12:52:49
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55555
(Fettnäpfchendetektor)

Das könnte doch mal ein interessantes Thema werden.
Zitat von Lyra:
Afrika hungert. ("Die Bewohner Afrikas")

Korrekt wäre eigentlich: "Einige Bewohner Afrikas"
Zitat:
wie es geht, dass man Wörter oder Sätze, die für sich eine bestimmte Bedeutung haben, in einer angemessenen Situation mit einer ganz anderen Bedeutung verwenden kann, ohne das es dabei -- für die meisten Sprachbenutzer -- zu größeren Verständnisproblemen kommt.

"für sich eine bestimmte Bedeutung", "zu einer ganz anderen Bedeutung" das finde ich ziemlich vage. Ersteinmal müßten wir wohl klären, ob es wirklich wörtliche Anwendung von Sprache überhaupt gibt?
Zitat:
In der Literatur zum Sprachverstehen bei autistischen Sprachbenutzern findet sich immer wieder die Feststellung, dass viele Autisten ironische Äußerungen oder auch Äußerungen mit metaphorisch gebrauchten Ausdrücken oft nicht als solche erkennen.

Im Falle der Ironie kann es auch damit zusammenhängen daß nichtautistische Mimik und Gestik nicht so recht erkannt wird, weil sie eben dem eigenen Erleben fremd ist. Und metaphorische Systeme müssen ersteinmal in ihren Regeln und Bedeutungen erfasst werden und das wohl von allen Menschen. Da Autisten aber häufig in sehr belastenden Umgebungen leben haben sie weniger Energie um soetwas zu lernen.
Zitat:
Mich interessiert, wie es mit dem Verstehen anderer Formen von nicht-wörtlicher Sprache aussieht. Zum Beispiel Metonymien, also wenn Wörter benutzt werden -- nicht mit ihrer eigentlichen Bedeutung, aber mit einer abgeleiteten Bedeutung, die mit der ursprünglichen Bedeutung zusammenhängt.

Für mich ist das eine ungenaue Ausdrucksweise. Und da muß man erstmal drauf kommen, daß genaue Anwendung von Sprache viele Nichtautisten wohl überfordert, beziehungsweise durch Verzerrung emotionale Effekte angestrebt werden auch wenn dadurch die Aussage falsch wird und das Ganze öfters schon seltsam in Richtung Verdummung und Vernebelung tendiert, gerne auch als Rhetorik der Macht.
Zitat:
Kann jemand seine eigenen Erfahrungen dazu mit mir teilen?

Ja.
Zitat:
In diesem Zusammenhang ist es natürlich auch interessant zu erfahren, ob diese konstatierten Schwierigkeiten beim Verstehen nicht-wörtlicher Sprache von Autisten selbst überhaupt als hinderlich in der täglichen Kommunikation empfunden werden.

Dazu müßtst du wohl genauer werden.
Zitat:
Ich weis zumindest von einem (Asperger) Autisten, dass er selbst sogar gern und regelmäßig Sprache metaphorisch benutzt.

Ja, warum auch nicht. Was ist Metaphorik anderes als ein alternatives Bedeutungsgeflecht? Warum sollten Autisten das nicht lernen können, wenn sie auch die Alltagssprache anwenden? Vielleicht nennst du mal mehr Beispiele zur Veranschaulichung dessen, was du jeweils meinst?

Mancherorts steckt man Eltern ins Gefängnis, die ihre Kinder aus ideellen Gründen nicht zum Arzt bringen. Anderswo schützt man fremde Kulturen mittels Strafen vor Kontakt und Einmischung.
27.09.13, 13:17:23
Link
Lyra
(Standard)

@sayo: Danke für Deine Antwort.

@55555: Danke für die Anregungen. Hier noch ein paar Sachen ausführlicher:

Zitat von 55555:
Korrekt wäre eigentlich: "Einige Bewohner Afrikas"


Interessant! Also genau genommen, glaube ich, wäre korrekt "Viele Bewohner". Aber tatsächlich hat mich Deine Bemerkung darauf aufmerksam gemacht, dass in diesem speziellen Beispiel noch mehr "los ist", als nur einfach Metonymie, nämlich Übertreibung

Zitat:
"für sich eine bestimmte Bedeutung", "zu einer ganz anderen Bedeutung" das finde ich ziemlich vage. Ersteinmal müßten wir wohl klären, ob es wirklich wörtliche Anwendung von Sprache überhaupt gibt?


Das ist eine gute Frage. Sie wird auch aktuell in der sprachwissenschaftlichen Forschung diskutiert. Diese Frage eindeutig zu klären, wird wohl noch eine Weile dauern. Aber selbst wenn man sich vielleicht noch nicht so einig ist, wie man "wörtliche Bedeutung" am Besten definiert, besteht doch Einigkeit über die Tatsache, dass es Verwendungen von Sprache gibt, die mit einem (für verschiedene Gruppen von Sprachbenutzern mehr oder weniger stark) erhöhten Verarbeitungsaufwand verbunden sind.

Um noch kurz ein prägnantes Beispiel für die von mir verwendeten Phrasen zu geben:

Wenn man den Satz "Das Paket ist angekommen" liest, stellt man sich wahrscheinlich die Situation, die er beschreiben soll so vor, dass irgendein für den Sprecher klar identifizierbares Objekt einen Ortswechsel vollzogen hat und nun an einem bestimmten, ungenannten Ort eingetroffen ist. Wird dieser Satz jedoch von einem Spion am Telefon einem anderem Spion seines Teams gesagt, wobei der erste die Aufgabe hatte dem zweiten Bescheid zu geben, wenn eine bestimmte zu beobachtende Zielperson an einem bestimmten Ort eintrifft, bekommt der Satz (oder zumindest die Äußerung durch den Spion) eine ganz andere Bedeutung.

Zitat:
Im Falle der Ironie kann es auch damit zusammenhängen daß nichtautistische Mimik und Gestik nicht so recht erkannt wird


Das ist ein guter Punkt! Das müsste ich nochmal checken, inwieweit dieser Umstand Berücksichtigung gefunden hat in den Studien die ich zum Thema kenne. Wenn ich mich richtig entsinne -- aber auch das muss ich noch einmal prüfen -- können nichtautistische Sprecher Ironie auch dann erkennen, wenn sie entsprechende Äußerungen (in zu einer ironischen Interpretation passenden Kontexten) einfach nur lesen.

Zitat:
metaphorische Systeme müssen ersteinmal in ihren Regeln und Bedeutungen erfasst werden und das wohl von allen Menschen. Da Autisten aber häufig in sehr belastenden Umgebungen leben haben sie weniger Energie um soetwas zu lernen.


Über die erste These lässt sich, glaube ich, streiten. In der Kognitionsforschung geht man eher davon aus, dass das "metaphorische Denken" eine grundsätzliche kognitive Fähigkeit ist. Diese muss sich zwar erst entwickeln -- weshalb kleine Kinder Metaphern oft noch nicht so gut verstehen -- die Forschung zeigt aber, dass diese Entwicklung wesentlich früher einsetzt als ursprünglich gedacht (also im frühen Kindergartenalter). Trotzdem ist Deine Erklärung, warum (einige/manche/viele) Autisten Probleme mit Metaphern haben interessant. Denn auch kognitive Entwicklung braucht ja "Resourcen" und es könnte ja durchaus sein, dass autistische Kinder mit soviel Belastung durch ihre Umwelt konfrontiert sind, dass das kognitive System sozusagen Prioritäten setzen muss bei der Zuweisung von Resourcen.

Zitat:
Für mich ist das eine ungenaue Ausdrucksweise. Und da muß man erstmal drauf kommen, daß genaue Anwendung von Sprache viele Nichtautisten wohl überfordert, beziehungsweise durch Verzerrung emotionale Effekte angestrebt werden ...


Ok, was heißt denn jetzt "genaue Anwendung"? Ist das nicht dasselbe wie "wörtlich"? Das mit der Überforderung der Nichtautisten finde ich wiederum interessant. Wahrscheinlich stimmt das auch. (Achtung jetzt kommt eine hoch spekulative These, da ich keine Erfahrung in der Kommunikation mit Autisten habe -- bisher) Ich koennte mir vorstellen, dass Nichtautisten es einfach gewöhnt sind, dass für die Interpretation von Äußerungen, die sie machen, bestimmte Aspekte vom Hörer mitberücksichtigt werden, die für einen Autisten vielleicht gar nicht zur Kommunikation zählen? Wie oben schon erwähnt, sowas wie Mimik, Gestik, aber auch Sprachmelodie. Und wenn Du von Verzerrung sprichst -- Nichtautisten tendieren tatsächlich dazu, bestimmte Sachverhalte nicht so klar zu benennen, wie es vielleicht möglich wäre, aber angeblich (so sagt es jedenfalls die Theorie) um das "Gesicht des Gegenüber zu wahren". Dann sagt man eben nicht zu einem guten Freund "Du stinkst", sondern "Also an Deiner Stelle würde ich mal fix ins Bad gehen".

Zitat von Lyra:
... ob diese konstatierten Schwierigkeiten beim Verstehen nicht-wörtlicher Sprache von Autisten selbst überhaupt als hinderlich ... empfunden werden.


Diese Frage habe ich im Hinblick auf die Tatsache gestellt, dass es ja zu den verschiedensten Aspekten im Autismusspektrum Interventionen gibt -- so auch zur Sprachverwendung (obwohl ich da noch nicht so den Überblick habe, was es da genau gibt). Die Frage ist, wie sinnvoll die sind und ob sie den Menschen, denen sie "helfen" sollen dann überhaupt was bringen.

Zitat:
... Vielleicht nennst du mal mehr Beispiele zur Veranschaulichung dessen, was du jeweils meinst?


Ok, da war ich wohl auch zu ungenau. Ich wollte das nicht auf Metapher beschränken. In der Forschung wird ja meist über das gesprochen was "fehlt" (z.B. die Fähigkeit Ironie zu verstehen), aber nicht so viel über das, was "mehr" da ist, als bei Nichtautisten. Dieses "mehr" würde mich interessieren, in Hinblick auf die Anwendung von Sprache. Ich meine z.B. gelesen zu haben, dass Autisten kreativ in der Wortneuschöpfung sind (aber vielleicht war das ja auch nur eine Verallgemeinerung auf der Grundlage von tatsächlich spärlicher Evidenz).
27.09.13, 14:49:38
Link
55555
(Fettnäpfchendetektor)

Zitat von Lyra:
Also genau genommen, glaube ich, wäre korrekt "Viele Bewohner".

Was die Frage aufwerfen würde, was nun "viel" sein soll. 70%? 5%? In gewisser Hinsicht ist jeder hungernde Mensch einer zuviel.
Zitat:
Aber tatsächlich hat mich Deine Bemerkung darauf aufmerksam gemacht, dass in diesem speziellen Beispiel noch mehr "los ist", als nur einfach Metonymie, nämlich Übertreibung

Ja, mein Ansatzpunkt war aber vor allem die von mir empfundene Unstimmigkeit der drei Beispiele:
Zitat:
Die Schule hat angerufen. ("eine mit der Institution Schule assoziierte Person")

"Die Schule" ist nach üblichem Verständnis das Gebäude. Das hat zumindest mich noch nicht angerufen, wobei das bei der heutigen Haustechnik wohl durchaus möglich wäre z.B. wenn die Heizung der Schule als Repräsentat des Gesamtsystems Schulgebäude anruft und eine Fehlermeldung zum Servicebetrieb meldet.

Deine insofern nicht selbstverständliche Erläuterung (und das könnte in der Tat eine Rolle spielen, wenn Autisten einfach an mehr Möglichkeiten denken und daher bei ihnen der Eindruck von Ungenauigkeit entstehen würde) zielt vermutlich auf das Schulpersonal. Eine weitere mögliche Bedeutung von "Schule" wäre eine Denkrichtung.
Zitat:
Afrika hungert. ("Die Bewohner Afrikas")

Analog zum Schulgebäude ist Afrika meist als Kontinent gemeint. Aber während bei Beispiel 1 angenommen wird eine Person habe angerufen und nicht etwa das gesamte Schulpersonal (was ja technisch heute durchaus gehen würde) wird in Beispiel 2 dieser Schritt gewissermaßen nicht gegangen. Und das obwohl das Ausgangsmuster der Übertragung einer Sache auf oder in der sich Menschen aufhalten auf ebendiese Menschen sich weitgehend ähnelt, wenn auch Afrika ein natürliches Ding ist und eine Schule ein gemachtes Ding.

Diese ungenauen Bezeichnungen funktionieren wohl nur deswegen halbwegs, weil einfach davon ausgegangen wird, daß das gemeint ist, was man als häufig kennt.
Zitat:
Sie wird auch aktuell in der sprachwissenschaftlichen Forschung diskutiert. Diese Frage eindeutig zu klären, wird wohl noch eine Weile dauern.

Dann klären wir sie doch hier. zwinkern
Zitat:
Aber selbst wenn man sich vielleicht noch nicht so einig ist, wie man "wörtliche Bedeutung" am Besten definiert, besteht doch Einigkeit über die Tatsache, dass es Verwendungen von Sprache gibt, die mit einem (für verschiedene Gruppen von Sprachbenutzern mehr oder weniger stark) erhöhten Verarbeitungsaufwand verbunden sind.

Wer sollte das auch bestreiten.
Zitat:
Wird dieser Satz jedoch von einem Spion am Telefon einem anderem Spion seines Teams gesagt, wobei der erste die Aufgabe hatte dem zweiten Bescheid zu geben, wenn eine bestimmte zu beobachtende Zielperson an einem bestimmten Ort eintrifft, bekommt der Satz (oder zumindest die Äußerung durch den Spion) eine ganz andere Bedeutung.

Wieso das? In diesem Beispiel würde der Spion doch ebenso meinen, daß ein Objekt an einem Zielort eingetroffen ist?
Zitat:
Wenn ich mich richtig entsinne -- aber auch das muss ich noch einmal prüfen -- können nichtautistische Sprecher Ironie auch dann erkennen, wenn sie entsprechende Äußerungen (in zu einer ironischen Interpretation passenden Kontexten) einfach nur lesen.

Ja, hier im Forum wird auch Ironie angewendet. Diese basiert dann z.B. mehr auf angenommener Abwegigkeit einer Aussage.
Zitat:
In der Kognitionsforschung geht man eher davon aus, dass das "metaphorische Denken" eine grundsätzliche kognitive Fähigkeit ist.

Und wie genau wird diese vermeintliche Fähigkeit umrissen?
Zitat:
es könnte ja durchaus sein, dass autistische Kinder mit soviel Belastung durch ihre Umwelt konfrontiert sind, dass das kognitive System sozusagen Prioritäten setzen muss bei der Zuweisung von Resourcen.

Das ist definitiv ein Faktor, welche Auswirkungen er hat kann man wohl diskutieren. Wichtig ist auch sich zu vergegenwärtigen, daß diese Belastungen eigentlich vermeidbar wären. Sie gehen zuallermeist auf ein einseitig nichtautistisch geprägtes Umfeld zurück.
Zitat:
Ok, was heißt denn jetzt "genaue Anwendung"?

Eine richtige Frage. Ich bezog das auf die "Erklärungen" deiner Aussagebeispiele, deren Grad von Unklarheit geringer ist. Insofern wäre "Genauigkeit" eine möglichst geringe Anzahl möglicher Bedeutungen einer Aussage.
Zitat:
Ist das nicht dasselbe wie "wörtlich"?

Ich weiß nicht?
Zitat:
Das mit der Überforderung der Nichtautisten finde ich wiederum interessant. Wahrscheinlich stimmt das auch.

Dazu kommt noch die Beobachtung, daß NA sich oft ungenau ausdrücken wollen, da sie genaue eindeutige Aussagen als verletzend oder hart empfinden. Die Logik dabei ist wohl eben die, daß davon ausgegangen wird, daß ein Mitmensch die Bedeutung annimmt, die er als häufig kennt. Wenn ihm ein Umstand jedoch nicht bewußt ist (z.B. er stinkt nach dem Empfinden von jemand anderen nach Schweiß), dann wird er eine Andeutung wohl nicht verstehen. Ist ihm das aber nicht bewußt, dann wird er sich von einer unmißverständlichen Aussage dazu vermutlich in der Nichtautisten angeborenen Rudelveranlagung angegriffen fühlen eben weil ihm das neu wäre und nicht selten nachtragend reagieren.
Zitat:
Die Frage ist, wie sinnvoll die sind und ob sie den Menschen, denen sie "helfen" sollen dann überhaupt was bringen.

Dabei geht es also um "Therapien". Diese setzen meist auf Umerziehung wie früher bei Linkshändern auch üblich. Meist verstehen die Ausführenden gar nicht was Autisten empfinden, insofern sind Bedenken berechtigt, wenn ich mir auch hier noch nicht so recht vorstellen kann was genau gemeint ist. Aber oft wäre es sicher besser die Belastungen durch Barrieren im Umfeld zu reduzieren und so dem Autisten energetische Regeneration zu erlauben, nach der er dann irgendwann von alleine lernen wird, was ihm wichtig erscheint und das auch in höherer Qualität.
Zitat:
Ich meine z.B. gelesen zu haben, dass Autisten kreativ in der Wortneuschöpfung sind (aber vielleicht war das ja auch nur eine Verallgemeinerung auf der Grundlage von tatsächlich spärlicher Evidenz).

Das scheint mir tatsächlich so zu sein. Nicht wenige Autisten übersetzen aus ihrer "inneren Muttersprache", die sich oft sehr von der Sprache des Umfeld unterscheidet. Es könnte also sein, daß dies auch den Grund hat, daß Entsprechungen für Begriffe gesucht werden die die innere Sprache kennt.

Mancherorts steckt man Eltern ins Gefängnis, die ihre Kinder aus ideellen Gründen nicht zum Arzt bringen. Anderswo schützt man fremde Kulturen mittels Strafen vor Kontakt und Einmischung.
27.09.13, 15:56:58
Link
PvdL
(Φιλίππος Φιλύρινος)

Ich habe auch Sprachwissenschaft studiert und würde es daher interessant finden, etwas zu der Theorie (oder dem Theoriegebäude) zu erfahren, die (oder das) dem Projekt zugrunde gelegt werden soll. Auch wüßte ich gerne, in welcher Hochschule das ganze stattfinden soll. Und nicht zuletzt wüßte ich gerne, ob ich mich eventuell wissenschaftlich daran beteiligen könnte, gewissermaßen als autistischer Linguist.

Ich habe ein autistisches Begabungsprofil.
Mein Spezialinteresse ist Linguistik.
Ich bin Germanist, Linguist und Anglist.
Und leider bin ich zur Zeit arbeitslos.
27.09.13, 21:40:16
Link
Fundevogel
(Angehörigenbereich)

Wortschöpfungen oder ersatzweise Lautschöpfungen sind im Rheinland unter Nichtautisten üblich und werden dort meist auch nur verstanden (als Seelensprache und über die Melodie), wobei man die Hochburg in Köln festlegen kann. Mehrdeutungen werden umgangssprachlich wie ein Spiel (bei Könnern gar mit paradoxem Mienenspiel) sozusagen zur Aufbesserung der Langeweile (zur Unterhaltung/Kommödie) einer eindeutigen Sprache betrieben.

Nichtautistische Sprecher können Ironie eben nicht automatisch erkennen, ich erlebe die Fähigkeiten hierzu als kulturelles (landsmannschaftliches) Erbe. Während in Köln nur wenig Eindeutiges gesagt wird, wird das Eindeutige in Aachen für Außenstehende abwertig empfunden, obwohl es von den Sprechern heimelig gemeint ist. In Dresden findet sich wahrscheinlich niemand, der diese rheinischen Verwendungen auswerten kann.

Für die Einbindung in einen Kontext ist ebenfalls erforderlich, überörtliche und örtliche Kenntnisse zu haben. Beispiel: "Es müssen Hausaufgaben in Kauf genommen werden" wird mehrheitserfahrungsgemäß dem Schulwesen zugeordnet. Wohnt der Sprecher aber in einem Tagebaugebiet, kann es sich um das Dörfersterben durch fortschreitende Braunkohlebagger handeln.

Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. (Johannes 8.12).
Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es denn allen, die im Hause sind. (Markus 4.21) (Lukas 8.16)
28.09.13, 02:00:34
Link
drvaust
(stillgelegt)

Ich komme mit 'verdrehter' Sprache meistens zurecht, habe das gelernt und kann viel aus dem Zusammenhang verstehen.
Wenn die Bedeutung aber durch nonverbale Signale übermittelt wird, habe ich Schwierigkeiten. Z.B. wenn jemand eine ernsthaft formulierte Aussage durch Zwinkern als Ironie kennzeichnet, merke ich das oft nicht.
In Menschengruppen, mit denen ich kommunizieren muß, habe ich öfter Probleme, weil ich durch die Situation schon belastet bin und dadurch weniger in der Lage bin, die Zusammenhänge zu analysieren.
Ich kann derart 'verdrehte' Sprache aber nicht leiden, ich bevorzuge klare exakte Sprache, das schützt vor Mißverständnissen, da muß ich nicht deuten.
Mich stören auch übliche Übertragungen, z.B. daß die Bundesregierung als Berlin bezeichnet wird. Wenn es heißt, daß Berlin etwas beschlossen hat, was ist damit gemeint. Hat das Bundesland Berlin etwas beschlossen, das wäre für mich bedeutungslos. Oder hat die Bundesregierung, mit Sitz in Berlin, etwas beschlossen, das könnte für mich wichtig sein.

Ich möchte aber noch einen anderen Aspekt erwähnen, den Gruppen-Kode. Gruppen neigen dazu, einen eigenen Kode zu bilden, gruppenspezifische Bezeichnungen, Spitznamen, Abkürzungen, Sprachregelungen usw.. Das ist zum einen identitätsbildend, wir verstehen uns so, eine Andeutung genügt, wir haben etwas eigenes. Zum anderen ist das abgrenzend, Fremde verstehen das nicht und wir können diese daran erkennen. Außerdem ist das wie Mode, immer wieder etwas neues, durch das man sich als 'auf der Höhe der Zeit' profilieren kann. Diese Gruppen können sehr groß sein, ganze Länder umfassen, oder auch klein, nur zwei drei Freunde.
Der sprachliche Gruppen-Kode wechselt oft schnell. Welcher Kode gerade aktuell ist und welche Begriffe neu dazukommen, spricht sich schnell herum, hauptsächlich in Small-Talk. Da entstehen Probleme für Autisten, weil Autisten bei Small-Talk Schwierigkeiten haben und diesen meiden. Dadurch bekommen sie weniger Informationen zu diesen aktuellen Regelungen und kennen sich schlechter aus.
28.09.13, 23:17:30
Link
mor
(Autistenbereich)

Wenn ich so höre, wie man sagt "ganz Deutschland trauert" oder "ganz Deutschland feiert oder freut sich". Die sollten es lieber anders formulieren.
29.09.13, 14:53:32
Link
55555
(Fettnäpfchendetektor)

Diese Formulierungen sollen teilweise wohl den gefühligen Tunnelblick des erregten Autors darstellen (ob er nun tatsächlich erregt ist oder nicht)?

Mancherorts steckt man Eltern ins Gefängnis, die ihre Kinder aus ideellen Gründen nicht zum Arzt bringen. Anderswo schützt man fremde Kulturen mittels Strafen vor Kontakt und Einmischung.
29.09.13, 15:07:27
Link
Lyra
(Standard)

Wow! Zunächst einmal danke für die vielen Beiträge. Schön, dass mein Anliegen auf interessierte Leser gestoßen ist (...metaphorisch ;-)).

@PvdL: Ich bin gerade dabei einen Projektantrag zu entwerfen. So wie es derzeit aussieht, wird es zunächst wohl auf ein Forschungsprojekt im Ausland hinauslaufen, da es in Deutschland (soweit ich das anhand nicht-existenter Publikationen überblicken kann) keine erfahrenen Wissenschaftler gibt, die sich mit dem Thema auseinander setzen. Wegen des theoretischen Rahmens: das würde ich Dir lieber persönlich schreiben (wenn ich herausgefunden habe, wie das hier geht -- ich bin nämlich überhaupt nicht "Internetforenfirm") -- ich denke das sprengt vielleicht sonst den Forumsrahmen.

@Fundevogel:

Zitat:
Nichtautistische Sprecher können Ironie eben nicht automatisch erkennen, ich erlebe die Fähigkeiten hierzu als kulturelles (landsmannschaftliches) Erbe.


Es stimmt sicherlich, dass die "Realisierung" (will ich es mal nennen) von Ironie von Region zu Region unterschiedlich ausfällt. Der Punkt ist aber der, dass, wenn man meinetwegen sächsische Nichtautisten und sächsische Autisten mit landestypischen Ironiebeispielen testen würde, die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Nichtautisten Ironie signifikant häufig als solche identifizieren könnten, während das bei den Autisten nicht der Fall wäre.

Das mit dem Kontext ist natürlich ein wichtiger Punkt. Das gilt im Übrigen auch für die Metonymiebeispiele. Da gibt es z.B. eine Studie, in der die Teilnehmer folgenden Satz präsentiert bekommen haben.

Meine Großmutter las immer gern Needham, wenn sie die Zeit hatte.

Diesen Satz -- und insbesondere den Namen Needham -- konnten die Teilnehmer wesentlich schneller verstehen, wenn ihm ein Satz vorausging, indem klar gestellt wurde, dass es sich bei Needham um einen Schriftsteller handelt.

@drvaust: ja das Berlin-für-Bundesregierung Bsp. ist auch ein sehr typisches Metonymiebeispiel (ähnlich wie "das Weiße Haus"). Danke für den Hinweis zum Gruppen-code und den möglicherweise erschwerten Zugang zu diesem für Autisten.

@mor: Ja, ein weiteres Beispiel für Übertreibung. Ich wüsste gern, warum Du sagst, "die sollten es lieber anders formulieren"? Ist es weil Du das so verstehst wie "alle Bewohner Deutschlands trauern' und das sicherlich nicht stimmt, bzw. man unmöglich Beweise haben kann, dass das stimmt?

Zitat von @55555:
Was die Frage aufwerfen würde, was nun "viel" sein soll. 70%? 5%? In gewisser Hinsicht ist jeder hungernde Mensch einer zuviel.


Cool! Das ist tatsächlich eine weitere gute Frage. Keine Ahnung. Aber wahrscheinlich muss man annehmen, dass die Bedeutung dieses Ausdrucks unter Berücksichtigung einer Bezugsgröße festgelegt wird. Also im Fall von "viele Bewohner Afrikas" vielleicht mehr als die Hälfte der Gesamtbewohnerzahl oder so. Das ist aber reine Spekulation.

Ja, die drei Beispiele sind nicht homogen (sollten sie auch nicht sein). Sie sind aber charakteristisch. Gerade das Schule-Bsp. ist insofern besonders, als das Wort "Schule" selbst systematisch polysem ist. D.h., es hat verschiedene, systematisch miteinander in Verbindung stehende Lesarten, dazu gehören die "Gebäude", "Institution" und "Prozesse"-Lesarten.

Die Unterschiede in den "Mengenverständnis" der involvierten Personen kann man vielleicht darauf zurückführen, dass "die Schule" mit dem Verb "anrufen" verknüpft wird, und typischerweise eine Person mit einer anderen telefoniert. Im Fall von "Afrika hungert" bringt das Verb vielleicht keine auf Stereotypen beruhende Beschränkung mit sich.

Zitat:
Wieso das? In diesem Beispiel würde der Spion doch ebenso meinen, daß ein Objekt an einem Zielort eingetroffen ist?


Nein, er würde meinen das eine Person eingetroffen ist. In meiner (zugegebenermaßen ungenauen) Umschreibung für "Paket" meinte ich mit Objekt tatsächlich etwas unbelebtes.

Zitat:
Und wie genau wird diese vermeintliche Fähigkeit umrissen?


Das habe ich nicht mehr so genau im Kopf, als das ich es jetzt mal schnell wiedergeben könnte. Aber nachlesen lässt sich das in George Lakoff und Mark Johnson (1980) Metaphors We Live By. University of Chicago Press.

Zitat:
Dabei geht es also um "Therapien". Diese setzen meist auf Umerziehung wie früher bei Linkshändern auch üblich.


Naja, also ich beziehe mich natürlich hier auf sprachtherapeutische Ansätze. Und da hinkt der Vergleich, denke ich. Es gibt ja (logopädische) Therapien mit denen Schwierigkeiten in der sprachlichen Kommunikation gelindert/beseitigt werden sollen. Die Frage ist dann, wie wichtig es für einen Autisten tatsächlich für die alltägliche Kommunikation ist, ob er Metapher, Ironie, Metonymie usw. mehr oder weniger gut versteht.
29.09.13, 23:54:19
Link
55555
(Fettnäpfchendetektor)

Zitat von Lyra:
dass mein Anliegen auf interessierte Leser gestoßen ist (...metaphorisch ;-)).

Worin siehst du an der Stelle Metaphorik? Im Stoßen? Ich weiß nicht, ob dein Anliegen bei mir auf Interesse stoßt, das Thema finde ich interessant.
Zitat:
Ich wüsste gern, warum Du sagst, "die sollten es lieber anders formulieren"?

Vermutlich, weil es eine falsche Aussage ist?
Zitat:
Die Unterschiede in den "Mengenverständnis" der involvierten Personen kann man vielleicht darauf zurückführen, dass "die Schule" mit dem Verb "anrufen" verknüpft wird, und typischerweise eine Person mit einer anderen telefoniert.

Ja und Autisten wünschen sich "von Natur aus" in der Regel wohl eindeutige Sprache, weil Wahrscheinlichkeitsvermutungen keine absolute Richtigkeit widerspiegeln.
Zitat:
In meiner (zugegebenermaßen ungenauen) Umschreibung für "Paket" meinte ich mit Objekt tatsächlich etwas unbelebtes.

Soso.
Zitat:
Naja, also ich beziehe mich natürlich hier auf sprachtherapeutische Ansätze. Und da hinkt der Vergleich, denke ich.

In Bezug auf dieses Thema sehe ich das anders.
Zitat:
Die Frage ist dann, wie wichtig es für einen Autisten tatsächlich für die alltägliche Kommunikation ist, ob er Metapher, Ironie, Metonymie usw. mehr oder weniger gut versteht.

Wenn es für ihn wichtig ist kann er das in der Regel alleine für sich regeln, wenn er wie erwähnt nicht unter völlig ungeeigneten Lebensbedingungen zu existieren gezwungen wird, die ihn kaputtmachen.

Generell würde ich es eher begrüßen den vielen NA beizubringen sich korrekt auszudrücken. Aber das widerspricht wohl ihren Fähigkeiten/Bedürfnissen. Also muß man wohl schauen, wie man sich interkulturell sinnvoll begegnen kann ohne daß eine Seite unverhältnismäßig diskriminiert wird, weil sie zufällig die Bevölkerungsmehrheit stellt.

Mancherorts steckt man Eltern ins Gefängnis, die ihre Kinder aus ideellen Gründen nicht zum Arzt bringen. Anderswo schützt man fremde Kulturen mittels Strafen vor Kontakt und Einmischung.
30.09.13, 17:27:49
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