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Wie unabhängig ist die Medizin eigentlich? Wie frei sind die Professoren, die da im Hörsaal stehen und Ärzte ausbilden? Zum Beispiel an der Uni Köln, die jedes Jahr eine sechsstellige Summe von Bayer bekommen soll und vertragliche Details, wenn überhaupt, dann nur zögerlich offenlegt. Fühlen sich die Profs der Freien Universität Berlin nur ihrem Fach und den Studenten verpflichtet oder auch dem Unternehmen Sanofi-Aventis, mit dem die Uni einen Kooperationsvertrag schloss? Wie gehen Lehrende und Doktoranden an der Uni Mainz damit um, dass das Darmstädter Pharmaunternehmen Merck Projekte der Hochschule bezuschusst?
Ohne Drittmittelfinanzierung, zum Beispiel Geld aus der Industrie, argumentieren die Hochschulen, stünde es schlecht um den wissenschaftlichen Fortschritt. Das mag sein. Aber es darf nicht sein: dass Pharmafirmen die Agenda staatlicher Hochschulen bestimmen. Und dass sie dies im Verborgenen tun. Was genau wäre dann eigentlich noch Hochschule an der Hochschule? Das Grundgesetz garantiert die Freiheit von Forschung und Lehre, aber an den medizinischen Fakultäten haben sich private Herren eingeschlichen; der Begriff "Transparenz" ist wohl ein Affront für sie.
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Der Vortrag des Institutsdirektors einer Uni-Klinik, der den Teilnehmern des "Advert retard"-Kurses präsentiert wurde, hat ihn besonders beeindruckt. Der Pharmakologe hatte auf einem Industriekongress über ein blutdrucksenkendes Mittel referiert.
"Hätte ich nicht gewusst, dass er vom Hersteller für den Vortrag Geld erhalten hat, wäre ich sofort überzeugt gewesen", sagt Steinbeis. So habe er ein komisches Bauchgefühl gehabt. Wieso benutzte der Professor zum Beispiel Folien eines Herstellers und keine eigenen? Warum wurde der Wirkstoff, um den es ging, nur mit positiven Eigenschaften beschrieben, warum wurden mögliche Nebenwirkungen verschwiegen?
Damit die angehenden Ärzte die Tricks der leisen Lobbyisten besser durchschauen, arbeiten sie Lehrbücher für Pharmavertreter durch. Außerdem vergleichen sie medizinische Zeitschriften, die keine Anzeigen drucken, mit denen, die auch vom Geld der Pharmaindustrie leben. Manchmal leisten die Studenten detektivische Arbeit und forschen in den Kliniken und Universitäten nach: Welche Nebentätigkeit üben die Dozenten aus, wer bezahlt sie dafür, wer weiß davon im Klinikalltag? "Da sind dann doch viele Studenten sehr überrascht", sagt Tinnemann.
Den Ärzten passt die Schnüffelei natürlich gar nicht. Meist hören Tinnemann und seine Studenten folgende Argumente: Man informiere sich bei Herstellern, bleibe dabei aber objektiv. Als gestandener Mediziner könne man sich sein Urteil schließlich selbst bilden. Etwas, das auch die meisten Hochschulprofessoren von sich behaupten würden. Gerade sie werden von der Pharmaindustrie aber gezielt umworben. Honorare für Studien oder Vorträge sind dabei nur kleine Leckerli am Rande. Vielmehr zielt die Einflussnahme aus der Industrie darauf, einen langfristigen und engen Kontakt aufzubauen, im Zuge dessen der Professor die Distanz verlieren soll. Und es deutet vieles darauf hin, dass das oft genug gelingt.
So haben wissenschaftliche Untersuchungen in den USA gezeigt, dass häufige Besuche von Pharmareferenten sich zum Beispiel auf das Verschreibungsverhalten von Ärzten auswirken. Je mehr Produkte mit Geschenken und Gefälligkeiten beworben werden, desto schneller und öfter werden sie auch verordnet. Umso erstaunlicher, dass bisher nur Studenten und einige wenige Lehrende auf die Einrichtung von Veranstaltungen wie dem "Advert retard"-Seminar drängten, unter anderem in Hannover, Leipzig, Aachen oder Heidelberg - bislang allerdings ohne Erfolg. Warum? Was eigentlich spricht dagegen, pharmakritische Seminare fest in der Prüfungsordnung aller angehenden Ärzte zu verankern?
Dem Pharmakologen Bruno Müller-Oerlinghausen entringt diese Frage erst einmal einen Seufzer. "Viele Hochschulen denken, dass solche neuen Ansätze ihrem Ruf schaden, sie wollen nicht industriefeindlich daherkommen, sie brauchen ja das Geld", sagt er dann. Schon mehrfach referierte Müller-Oerlinghausen im "Advert retard"-Seminar und zeigte den Studenten Wege zu einer objektiven, unabhängigen Arzneimittelinformation auf. "Sie müssen gegen die Meinungsmanipulation der Pharmaindustrie widerstandsfähiger werden", sagt er. Zwölf Jahre stand Müller-Oerlinghausen der Arzneimittelkommission vor, einem Gremium, das Pillen und Therapien bewertet. Dabei lernte er: "Die Naivität der Mediziner gegenüber der Industrie ist erschreckend."
Was auch daran liegen mag, dass die Studenten schon früh an der Uni eingelullt werden, indem die Firmen ihnen kleine, harmlose Annehmlichkeiten im harten Klinikalltag bereiten, sie bezahlen Fortbildungen und gutes Essen, und anders als fordernde Patienten ist der Pharmavertreter stets höflich und zuvorkommend. So vermittelt Big Pharma den angehenden Ärzten ein positives Bild ihrer Tätigkeit.