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Heithuis wäre eines von Tausenden Missbrauchsopfern geblieben, hätte er nicht aufbegehrt. 1956 zeigt er katholische Geistliche wegen sexuellen Missbrauchs an. Doch dies ist nicht Heithuis' Befreiung - sondern der Beginn des zweiten Teils seines Leidenswegs.
Kurz nachdem er die Geistlichen beschuldigt, wird Heithuis in die psychiatrische katholische Anstalt "Haus Padua" in Brabant und danach in das St. Joseph Krankenhaus im niederländischen Veghel eingewiesen. Dort wird er laut Gerichtsunterlagen wegen seines "homosexuellen Verhaltens" kastriert, um ihn zu "heilen". "Man dachte, der Junge hat die Geistlichen verführt", sagt der niederländische Journalist Joep Dohmen, der den Fall für die Zeitung "NRC Handelsblad" aufdeckte, SPIEGEL ONLINE.
Die Veröffentlichung hat eine Debatte über die Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche ausgelöst. In den Niederlanden gibt es Streit, ob sie nicht in einem Bericht hätten erwähnt werden müssen, der Ende 2011 veröffentlicht wurde. Eine Kommission, geleitet vom früheren Den Haager Bürgermeister Wim Deetman, hatte den Report über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erarbeitet. Kastrationen kommen darin nicht vor, obwohl die Kommission über den Fall Heithuis informiert war.
Dem Bericht zufolge wurden seit 1945 zwischen 10.000 und 20.000 Kinder Opfer von Kirchenleuten. Darunter ist auch Heithuis. Er muss für das ihm widerfahrene Unrecht büßen.
"Die Argumentation, dass man das Opfer zum Täter macht, ist nicht selten", sagt Heinz-Peter Schmiedebach, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Der angeblich starke Sexualtrieb der Opfer sei dafür verantwortlich, dass sie andere verführten, so die zynische Argumentation. Dadurch tauschten Täter und Opfer die Rollen - und den tatsächlichen Opfern werde das Pathologisch-Abnorme zugeschrieben. Kastrationen seien "der Versuch, über biologische Eingriffe soziale Probleme zu lösen", sagt Schmiedebach.
Henk Heithuis soll die Operation angeblich gewollt haben, eine schriftliche Einverständniserklärung gibt es aber nicht. Zum Zeitpunkt der Kastration ist Heithuis 20 Jahre alt, minderjährig nach damaligem Recht. Niemand hält es für nötig, seine Eltern in die Entscheidung einzubeziehen. In der Krankenakte steht, Heithuis sei "eugenisiert" worden - eine euphemistische Chiffre für eine Kastration, dem Sprachgebrauch der Nazis ähnlich.
Kastration war laut Journalist Dohmen keine exklusiv katholische Methode. Der Irrglaube, durch Kastrationen Homosexualität "heilen" zu können, war damals nicht nur innerhalb der katholischen Kirche verbreitet. "Es ist ein Problem der Zeit gewesen", sagt Martin Dinges vom Stuttgarter Institut für Geschichte der Medizin. Kastration sei "in der Psychiaterschaft eine praktizierte Form der Bekämpfung von Homosexualität" gewesen. Allerdings hätten die spezifischen Verhältnisse in kirchlichen Einrichtungen verschärfend wirken können.