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Ich treffe – vorzugsweise am Rande von Strafprozessen, in denen es um Kapital- oder Sexualdelikte geht – nicht selten auf lebhafte Befürworter der Todesstrafe. Bisweilen frage ich nach, ob sie denn bereit wären, mit eigenen Händen das Todesurteil zu vollstrecken, das Beil zu nehmen und – zack! Ich dachte zuerst, eine solche Frage wirke abschreckend, aber nein! Manch ein Freund der Todesstrafe war gern dazu bereit. Das muss wohl heißen: Jemanden umzubringen wäre ihm eine Freude, er brauchte bloß einen guten Grund dafür, eine gesellschaftlich anerkannte Rechtfertigung. Er würde sich gern extra einen Hass aufbauen, den er bisher noch nicht hatte, um ihn sodann tödlich auszuleben.
Die Methode ist einfach: Man identifiziere sich mit einem persönlich unbekannten Opfer (bestenfalls einem Kind) oder dessen Hinterbliebenen und erteile sich die Lizenz zur Rache. So kommen mir diese Demonstranten vor, die vor den Wohnungen entlassener Straftäter herumstehen, um den Hals Plakate: »Keine Menschenrechte für Kinderschänder«. Sie sehnen sich nach einem Vorwand, um als Lynchmob tätig werden zu dürfen. In Emden haben wir kürzlich erlebt, was passiert, wenn man sie lässt. Dort schickten sie sich an, die Ermordung eines unschuldigen Verdächtigen ins Werk zu setzen. Oder die Neonazis, die auf ihren Autos »Todesstrafe für Kinderschänder« fordern: Sie möchten die Lieblingsbeschäftigung ihrer geistigen Vorfahren, das Töten, erst mal im kleinen Rahmen wieder etablieren – auch wenn das gewiss manchem Mitglied der eigenen Szene das Leben kosten würde.
Doch es sind nicht nur die Extremisten. Eine reizende alte Dame forderte im RBB-Kulturradio kürzlich am helllichten Tag in wohlgesetzten Worten die öffentliche Hinrichtung von Sexualstraftätern, der Moderator bedankte sich höflich für diese interessante Meinung.
Der amerikanische Sozialforscher David M. Buss hat herausgefunden, dass die Mehrheit der Erwachsenen rund um den Globus bereits ernsthafte Mordfantasien gegen eine andere Person hegte. Bei den Frauen richtete die Aggression sich vorrangig gegen eine Rivalin in Liebesdingen, bei den Männern häufiger gegen den beruflichen Konkurrenten. Die Mordlustigen hatten schon ernsthaft überlegt, wie so etwas zu bewerkstelligen sei, und es herzlich bedauert, als sie sich doch nicht trauten, die Tat durchzuführen. Nur sehr wenige tun es wirklich. Die Zahl der Tötungsdelikte ist in den vergangenen Jahren in Deutschland so niedrig wie nie zuvor. Der Abstand zwischen dem Todeswunsch und dem Töten ist – in einem geordneten Sozialwesen – zum Glück riesig. Man hätte – in unserem Land – einfach zu viel zu verlieren.
Aber nein, meinen manche Psychologen und Hirnforscher wie Robert James Blair oder Wolf Singer, der Grund ist ein anderer: Wir Normalbürger sind empathisch, Mörder sind empathielos. Unsere Spiegelneurone machen uns mitfühlend. Deren Spiegelneurone versagen. (Den Begriff »Spiegelneurone« müssen Sie nicht kennen. Sie können stattdessen auch »Gehirn« sagen oder »Nervenzellen«.) Kurz: Wir sind angeblich normal und die nicht. Mörder – das sind die ganz anderen. Und wenn man sie schon nicht mehr hinrichtet, muss man sie wenigstens in alle Ewigkeit therapieren. »Empathietraining« heißt das liebliche Wort. »Therapieunterbringung« ist das neueste Monstrum des Gefängniswesens.
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Im unterschwelligen Gedächtnis der Menschen dieses Landes ist immer noch verankert, dass es die Aufgabe der Männer zwischen 16 und 60 sei, sich eine Uniform anzuziehen und zu töten oder getötet zu werden. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde dieses Schlachten und Sterben als ritterlich geadelt, zu Unrecht, wie wir wissen. Im Zweiten Weltkrieg war das Kriegshandwerk dann verschwistert mit ideologisch begründetem Massenmord.
Damals versuchte man absurderweise, mithilfe von physiognomischen Studien wissenschaftlich zu belegen, dass Mörder an der Form von Kopf und Ohrläppchen erkennbar seien. Gleichzeitig wurde das Morden zur Industrie.
Wenn man biologistische Erklärungen für den Mörder 2012, den angeblich aus der Art Geschlagenen, den Hirnabweichler, überprüft, muss man überlegen, ob sie nicht auch für die Mörder von 1942 passten. Von der Essayistin Hannah Arendt und dem Soziologen Harald Welzer ist beschrieben worden, dass jene Menschen, die im vergangenen Jahrhundert Tausende anderer Menschen mit eigener Hand umgebracht haben, nicht geisteskrank waren, nicht hirngeschädigt, sie waren nicht einmal alle Rassisten.
Dagegen regt sich Widerstand bei Soziologen wie Rolf Pohl und Joachim Perels, die auf dem Standpunkt stehen, Massenmörder könnten eo ipso nicht normal sein und Antisemitismus sei ein Wahn. Eine Verharmlosung der Schoah, hätten sie recht – wie sollte erklärbar sein, dass Ärzte, Psychiater, Pfleger, Krankenschwestern einst 70.000 psychisch Kranke und geistig Behinderte umbrachten und nach dem Krieg sozial gut integriert weiterlebten? Ganz normale Bürger eben – bloß lebten sie in sozialen Verhältnissen, die spätestens 1933 bis 1945 aus heutiger Sicht alles andere als »normal« waren, vielmehr ein System entfesselter totalitärer Macht. Fraglos gab es abnorme Persönlichkeiten unter den Führern und Tätern – aber hunderttausend weitere wird man vor und nach ihrer Mörderlaufbahn nicht als psychisch gestört bezeichnen können. Psychisch normal ist eben nicht nur der aggressionsfreie und stets normgetreue Kleinbürger – mancher Historiker dürfte erschrecken vor dem, was zur normalen Ausstattung eines Menschen gehört.
Viele Täter der NS-Zeit sagten hinterher, sie hätten nur ihre Pflicht getan. Sie taten sie oft mit augenfälligem Vergnügen, genossen die berauschende Erfahrung, unvorstellbare Macht auszuüben, Herr über Leben und Tod zu sein. Sie standen über dem Gesetz, über der Moral, in einem neuen Herrenrecht des Mächtigen. Und die meisten wussten tief in ihrer Seele sehr wohl: Ihre Mütter würden verzweifeln, wüssten sie, was ihr Sohn da tut. Wüssten sie, dass er Männer, Frauen, Kinder abschlachtet. Und viele Täter ahnten gewiss, dass die Strafe kommen würde: Genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich sein!
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Gewaltanwendung wird von Rechtspolitikern derzeit zu einer unerklärlichen, neuartigen Bedrohung aufgeblasen, als lebten wir nicht im friedlichsten aller jemals existierenden Deutschländer. Dabei ist Gewalt – objektiv und moralfrei betrachtet – zunächst eine elementare Kraft im Menschen. Wie Sexualität, Hunger oder das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Aggressivität und Gewaltfähigkeit sind notwendig zum Überleben in einer feindlichen Umgebung und zur Selbstbehauptung gegen die anderen, die auf ihren Vorteil nicht weniger aus sind als ich. In der Gewaltanwendung manifestiert sich Macht, das ist die Voraussetzung dafür, dass schließlich auch die nur symbolische Repräsentation genügt.
Unter den Gewalttätern finden wir bemerkenswert viele sozial, psychisch oder intellektuell Schwache. Sich durchsetzen zu können ist jedermanns natürliches Bestreben, auch das des Schwachen. Gewalt ist für manche (nicht zuletzt manche Kinder) sogar die einzige Chance, sich überhaupt bemerkbar zu machen, sie wären für ihre Mitmenschen ansonsten gar nicht existent. Krafttraining ist die beliebteste Sportart im Knast. Auch der schwache Mensch, ein Alkoholiker etwa oder ein Minderbegabter, kann die Grenzen seiner Leibes- und Geisteskräfte überschreiten und Sieger werden: durch Waffen, durch Technik, durch Zusammenrottung mit anderen. Notfalls kann er mit einem Feuerzeug ein ganzes Opernhaus anzünden.
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Die Regeln der Gewalt und die Denkweisen über Gewalt ändern sich natürlich im Laufe der Zeit, in Abhängigkeit vom sozialen Wandel. Sklaven gibt es nicht mehr, untreue Frauen steinigt man nicht, jedenfalls bei uns. Duelle, an denen früher sogar führende SPD-Politiker wie Ferdinand Lassalle verstarben, sind verboten, die meisten Studenten schlagen sich nicht mehr mit Säbeln, Eltern und Lehrer werden angezeigt, wenn sie Kinder prügeln. Alle diese Fortschritte sind durch die öffentliche Diskussion gewaltfreier Alternativen, durch staatliche Strafandrohung, veränderte Formen der Sozialisierung und neue kulturelle Vorbilder erreicht worden. Nicht durch Therapie!
Die allgegenwärtige Verdammung und Pathologisierung von Gewalt und Tötung kontrastiert eindrucksvoll mit dem erzieherischen und kulturellen Stellenwert von Gewalt. Sehr viele Märchen, viele Klassiker der Unterhaltungs- sowie der Hochliteratur, die in immer neuen Versionen vom Actionfilm bis zum Computerspiel aktualisiert werden, sind – man kann es nicht anders sagen – gewaltverherrlichend.
Es beginnt mit den genauen Beschreibungen des Kämpfens und Tötens in der Ilias. Und behaglich liest man, wie der Titelheld der Odyssee, der sich 20 Jahre lang zu Hause nicht blicken ließ, die zudringlichen Freier seiner Frau Penelope nicht einfach vertreibt, sondern kunstvoll abschlachtet. Heute würde man Odysseus – diesen Protagonisten humanistischer Bildung – vermutlich als Psychopathen einstufen: narzisstisch, umtriebig, rücksichtslos, pathologisch angstfrei, gewalttätig.
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Begutachtet werden sollte ein Oberarzt aus Süddeutschland: Er hatte Schmutzwasser aus Putzeimern in jene Infusionen gegeben, mit denen sein Kollege, mit dem er um eine Professorenstelle konkurrierte, höchst erfolgreich schwer kranke Patienten behandelte. Er tötete also Menschen, um die wissenschaftliche Studie des Kollegen zu ruinieren und ihn in der Gunst des Chefs (und möglicher Headhunter) zu überflügeln. Der Mann war nicht krank, nicht vorbestraft, nur eben besonders ehrgeizig. Als alles herauskam und er in der Untersuchungshaft merkte, dass er all seine Lebenspläne selbst zunichtegemacht hatte, beging er Suizid. Mord und Selbstmord wohnen manchmal nahe beieinander.
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Die Anziehungskraft bestimmter militanter Gruppen liegt nicht in deren Ideologie, sondern in ihrer Gewaltbereitschaft. Man geht zu den Hools und nicht zur normalen Fangruppe, weil man Gefahr erleben möchte, den Zusammenhalt im Kampf, den eigenen Mut, den Sieg. All diese Gruppen, ob Hooligans, Neonazis, Anarchisten oder Stadtteil-Gangs, gewinnen ihre Mitglieder nicht auf Schulungsabenden und durch ideologische Überzeugungsarbeit, sondern indem sie zu Aktionen aufrufen und die Einladung aussprechen, sich gemeinsam der Gefahr auszusetzen. Man kommt zusammen, um zu kämpfen, und manch einer stellt sich dabei vor, ob er wohl stark genug sein könnte zu töten.
Ob es dann aus den Taten solcher Jungengruppen heraus zu Tötungsdelikten kommt, hängt vom Zufall ab oder davon, ob Waffen eingesetzt werden. Vom Zufall hängt oft auch ab, wer zuletzt Täter und wer Opfer wird. Wenn ein solcher Jugendlicher tötet, muss das nicht bedeuten, dass er dauerhaft gefährlich ist. Es bedeutet nicht einmal, dass er ein Gewaltproblem hat.
Die grundsätzliche Ächtung von Gewalt, in Schule, Familie, Öffentlichkeit, ist richtig und wichtig. Sie kann gar nicht nachdrücklich genug sein. Aber wir könnten uns effektiver schützen gegen Gewalt und Mord. Im Moment fließen erhebliche Summen in Präventionsprogramme, und Millionen werden in den Ausbau therapeutischer Programme gesteckt. Was die Effizienz dieser Maßnahmen betrifft, darf man Zweifel hegen. Der Glaube an die Therapierbarkeit von Kriminalität hat inzwischen illusionäre Ausmaße angenommen. Seitdem ich meinen Beruf ausübe, verfechte ich die Notwendigkeit von Kriminaltherapie und resozialisierendem Strafvollzug. Man sollte aber nur reparieren, was defekt, nicht was intakt ist. Und die meisten Täter sind gesund. Es sollte also da behandelt werden, wo tatsächlich Behandlungsbedarf und Behandlungsnotwendigkeit besteht.
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Doch wir sollten nicht vergessen: Das öffentliche Wissen darum, dass mit dem »genetischen Fingerabdruck« durch DNA-Spuren so gut wie jeder Täter überführt werden kann, hat mehr Vergewaltigungen und Sexualmorde verhindert als alle Sexualtherapien zusammen. Nicht die Seelenkur, sondern ein hohes Risiko der Bestrafung schreckt den gesunden Gewalttäter ab.
Zu einem rationalen Umgang mit der Gewaltgefahr gehört, dass wir sie nicht in sublime Hirnbezirke mit kaputten Spiegelneuronen verbannen, sondern als normal begreifen. Gewalt gehört zur conditio humana, dies zu verleugnen ist lebensgefährlich. Man kann Gewalt nicht durch Anti-Aggressions- oder Empathietraining beseitigen, man kann sie nur möglichst gut »einhegen«, wie die Historiker sagen.