Zitat:
Um das Erbe des 11. Septembers 2001 in der US-Politik und Kultur zu verstehen, ist es wichtig, sich den Kontext zu vergegenwärtigen. Zehn Monate vor den Anschlägen hatte George W. Bush die Wählermehrheit an Al Gore verloren. Doch aufgrund der Intervention des Obersten Gerichtshofs, in welchem die Konservativen fünf und die Liberalen vier Sitze hatten, gewann er schließlich mit den Stimmen der Wahlmänner. Es war die umstrittenste Wahl des Jahrhunderts, und ein Großteil des Landes hielt den Sieg Bushs am Ende für illegitim.
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In einer anderen Epoche oder einer anderen politischen Atmosphäre hätten die Zerstörungen vom 11. September zu rechter Zeit überwunden werden können: Man hätte die Toten betrauert, neue Strukturen geschaffen und ein Denkmal errichtet. Es hätte trotzdem eine begrenzte Invasion in Afghanistan und eine fokussierte internationale Allianz gegen al-Qaida und ihre Verbündeten geben können. Stattdessen hat man die Ereignisse schnell in eine bestehende politische Auseinandersetzung integriert.
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Die schlüssigste Weise, den 11. September zu verstehen, besteht also darin, ihn nicht als Ursache der Katastrophen zu betrachten, die folgten - zwei Kriege, staatlich geförderte Folter, eine massive Rezession - sondern als einen mächtigen Beschleuniger. Er war die Lunte am Pulverfass eines bereits aufgeheizten innenpolitischen Konflikts.
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Doch anstatt mit einer Erzählung aufzuwarten, die den Zweck der Angriffe erklärte und den Grund, warum sich die meisten US-Bürger nicht in unmittelbarer Gefahr befanden, verstärkte die Bush-Regierung ihre terrorisierende Wirkung noch, indem sie sie dazu nutzte, noch mehr Ängste zu schüren. Man unterstellte, dass Saddam Hussein beteiligt war. Man behauptete, er besäße chemische und vielleicht sogar nukleare Waffen. Die damalige Außenministerin Condoleezza Rice sagte im Vorfeld des Irak-Krieges, "Wir wollen nicht, dass der rauchende Colt zu einer pilzförmigen Wolke wird."
Wer auf die fehlende Verknüpfungslogik hinwies, wurde als unpatriotischer Schwächling diffamiert. Schließlich griffen die politischen Strategien Bushs und Osama Bin Ladens auf geradezu perverse Weise ineinander. Die Ersatz-Cowboy-Rhetorik des Präsidenten schürte Unmut im potentiellen Rekrutierungsbasar der al-Qaida, während die Drohvideos Bin Ladens Bush dabei halfen, im Jahr 2004 seine Wahl zur zweiten Amtszeit zu gewinnen.
Ich erinnere mich, ein Interview mit einer Mutter eines toten US-Soldaten im Radio gehört zu haben - zu einer Zeit, als das Fehlen von Massenvernichtungswaffen im Irak unbestreitbar wurde, selbst für die Regierung Bush. Sie wurde gefragt, ob sie glaube, dass der Präsident das Land betrogen habe. Ich werde ihre Antwort nie vergessen: "Ich könnte das einfach nicht glauben", sagte sie. "Wenn ich das glauben würde, dann ergäbe nichts mehr einen Sinn." So funktionieren große Lügen: Wie Banken werden sie zu groß zum Scheitern. Ihr Stellenwert im ideologischen Kraftfeld wird so zentral, dass die Menschen sie nicht mehr durchschauen dürfen, da sonst ihr gesamtes Weltbild zusammen bräche. Bis zum heutigen Tag glauben nach wie vor Millionen Amerikaner, dass Saddam Hussein am 11. September beteiligt war.