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„Der Weg ab vom Normalen ist nur ein ganz kleiner Schritt, deshalb müssen wir in allen psychischen Störungen auch Normales, auch Positives sehen.“ Die einleitenden Worte von Hannelore Ehrenreich, Professorin am Göttinger Max-Planck-Institut (MPI) für experimentelle Medizin, verdeutlichen: „Autismus ist nichts Abartiges, nur in gewisser Weise andersartig“.
In der „Denk-Bar“ – so heißt eine Veranstaltungsreihe des DFG-Forschungszentrum Molekularphysiologie des Gehirns sprachen Ehrenreich und Prof. Nils Brose vom MPI über das Thema „Wenn Nervenzellen sich missverstehen – Biologische Ursachen von Autismus“ im Apex und diskutiert mit den etwa 100 Gästen.
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Wichtig für die Entstehung des Autismus sei die noch komplexere Ebene der Reiz-Weiterleitung in den Zellen: Zellfortsätze müssten mit ihren Partnerzellen Synapsen ausbilden. Diese fungierten als Schaltzellen der Reizübertragung zwischen zwei Zellfortsätzen.
Bei der Herstellung dieser Synapsen spielten Proteine eine besondere Rolle: Sie bauten kaskadenartig ein molekulares Gerüst auf Rezeptorproteinen am Ende, die wiederum den Reiz transportierende Botenstoffe aus der Senderzelle aufnehmen. So wird ein elektrischer Impuls von Zelle zu Zelle weitergegeben. Bei Autismus entsteht die Protein-Kaskade nicht: Das Protein Neuroligin, zuständig für den Bau des Gerüsts, fehlt oder ist mutiert. Der Reiz kann nicht übertragen werden.
Aus den Tiefen der Theorie der Gehirnforschung holte die Leipzigerin Gee Vero die Anwesenden zurück: Anhand ihrer Kunstwerke und Erzählungen illustrierte sie subjektiv das, was die Wissenschaft objektiv erforscht. Vor einigen Jahren mit der Diagnose „Asperger-Syndrom“ konfrontiert, beschrieb die als Bareface wirkende Künstlerin ihren Werdegang und ihr Leben mit dem „Anders-Sein“.
Autismus, das bedeute für Betroffene „Menschen zu fühlen statt sie anzuschauen, stets mit dem eigenen Selbst konfrontiert zu werden“, das sei das Nichtverstehen der Anderen, eine „nicht von Erfahrung gefärbte Wahrnehmung, Zurückgezogenheit, aber schlicht auch eine Form von Normalität“. So habe sie studiert, sei verheiratet und habe gelernt, auf Gesichtsausdrücke und Reize angemessen zu reagieren.
Autobahn fahren sei aber nur dann möglich, wenn sie sich zwinge, nicht alle Nummernschilder zu lesen und zu merken. Auf die Frage, was sie glücklich mache, hatte die Künstlerin neben einer „neurotypischen“, also „normalen“, auch eine „autistische“ Antwort parat: Glücklich mache sie die Zahl 208, die Uhrzeit 17.56, der Stift der Marke „Edding 3000“ in schwarz, mit dem sie ihre Bilder malt sowie kleine Details und Dinge wie Verkehrsschilder.
Damit normale Menschen sich in sie einfühlen könnten, „braucht man wohl neuronales Kabel“. Für die Attribute „normal“ und „gestört“, so die Quintessenz aus der anschließenden Diskussion zwischen Gästen und Experten, gibt es weder Trennschärfe noch Schablonen, in die man die
Menschen einsortieren kann. Nach gut zwei Stunden waren viele Fragen beseitigt, aber eine wichtige blieb im Raum: Hat nicht jeder noch so normale Mensch auch ab und an autistische Züge?