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Thema: Textinterpretation (http://autismus-ra.unen.de/topic.php?id=3660)


Geschrieben von: feder am: 20.03.10, 16:17:07
Ausgehend von diesem Zitat kam ich wieder auf das Thema der Textinterpretation:

Zitat von Paula:
Ich denke sehr vernetzt und in großen Zusammenhängen, Details nehme ich oft überhaupt nicht wahr oder zur Kenntnis.

[...]

Außerdem interpretiere ich sehr, sehr gerne. Das heißt, wenn ich einen Text lese, lese ich den Inhalt. Seltens aber die Wortbedeutung.


Quelle

Wie läuft das ab, wenn Texte interpretiert werden? Achten auch andere NAs nicht auf Details/einzelne Wortbedeutungen? Woran wird dann die Interpretation festgemacht?

Vor einigen Wochen habe ich mich mit einem Germanistikprofessor über mündliche Prüfungen unterhalten. Wenn er den Eindruck hat, dass der Student das Buch ungenau gelesen hat, dann stellt er anscheinend Fragen, die gar nicht über das Buch zu beantworten sind. Also z.B. Augenfarbe einer wichtigen Figur im Buch, deren Gesicht zwar beschrieben wurde, über die Augen aber keinerlei Angaben erfolgten u.ä. Anscheinend würden die meisten Studenten die Fragen trotzdem beantworten und wären oft ganz verwirrt, wennn sie darüber aufgeklärt wurden, dass dazu im Buch gar keine Aussagen gemacht wurden.

Wenn nicht auf einzelne Details geachtet wird, wie ist dann überhaupt eine Textinterpretation möglich, die am Schluss aufgeht und nicht in irgendwelche Sackgassen führt?

Dass Worte regional oder auch individuell unterschiedliche Bedeutungen aufweisen ist mir klar. Ist die Konsequenz dann daraus, einzelnen Worten nur noch geringfügiges Gewicht zuzumessen? Erscheint mir wenig plausibel.


Geschrieben von: haggard am: 21.03.10, 17:05:13
habe ein selbsterkenntnis-experiment im internet gefunden: klick.

kann das dort beschriebene
Zitat:
Da dein Gehirn sich nicht darum kümmert, ob etwas Realität oder Einbildung ist, musst du diese Aufgabe übernehmen. Du musst überprüfen, ob deine Gedanken und Vorstellungen der Realität entsprechen. Du fühlst, was du denkst und dir einbildest.

allgemein auf das individuelle sprachverständnis übertragen werden? ist es das, was gemeint ist, wenn mitgeteilt wird, die texte von autisten sollten direkt gelesen/verstanden werden, also ein hinweis darauf, sich nicht von eindrücken/interpretationen leiten zu lassen, sondern fakten zunächst einmal einzelner sätze zu erkennen?
wenn angenommen wird, autisten besäßen keinerlei "filterfunktion" im gehirn, wäre das vielleicht sogar richtig gut? weil dadurch die realität besser zu erkennen wäre und nicht durch "einbildungen"/gefilterte "einstellungen" überlagert würden?

schließlich geben manche menschen nach einem hinweis an, einen satz direkt zu lesen, dass sie nun, nachdem sie sich vormals angegriffen fühlten oder anderes, "erkennen" könnten, was ein autist eigentlich (nach anderer sicht durch andere) geäußert hat.

genauso kann es allerdings auch bei autisten zu "missverstehen" kommen, wenn als von anderen im übertragenen sinne gedachte äußerungen nur direkt gelesen werden können und somit einen ganz anderen sinn ergeben können.

jedoch müsste es doch für "beide seiten" möglich sein, selbst zu erkennen anhand der reaktion anderer, ob das, was selbst geäußert wurde je nach folgender reaktion dur den anderen richtig aufgefasst wurde oder nicht und wenn das "nicht" der fall ist, müsste doch auch erkannt werden können, an welcher stelle der "fehler" wahrscheinlich auftrat um diese stelle nochmals anders dazustellen bzw. nachträglich sicherzustellen, dass diese stelle im eigentlichen sinne verstanden wird um darauf aufbauend weitere verständigung zu betreiben.
mir erscheint es jedoch so, als würde genau an dieser stelle des erkennens, dass etwas nicht wie beabsichtigt aufgefasst wurde, die verständigung abbrechen.

vorhin las ich eine anleitung. dort wurde u.a. angegeben: "es sei k ein kreis..." wie lesen so etwas andere? ich kam über diesen anfang nicht hinaus. "sei" bezeichnet für mich eine vorstellung/überlegung, die jedoch nicht zwingend zutreffend sein muss. wenn das bedeuten sollte (was es wohl auch tut), dass k für kreis steht, warum wird das nicht direkt geschrieben? derartige formulierungen werden auch verwendet, wenn wörtliche rede durch andere wiedergegeben wird - es sei denn, die wiedergebende person befindet sich dabei gedanklich "wieder" in der situation und gibt quasi 1:1 wieder, was eine andere person äußerte. ein zitat. in schriftform würde das wahrscheinlich kenntlich gemacht werden, wenn das nicht vergessen wird so wie es auch in der lautsprache vergessen werden kann, wenn sich der redner gerade in einem gedankenfluss befindet und nicht extra vorher sagt "dann sagte xyz (pause) (zitat)".


wie das jedoch genau funktioniert, einen satz eigentlich nicht zu lesen und trotzdem der festen meinung zu sein, irgendetwas wäre zu lesen gewesen, interessiert mich ebenfalls.


Geschrieben von: anne1 am: 21.03.10, 21:24:48
Hallo, Azrael,
"es sei k ein Kreis"
ist eine mathematische Anweisung,
im typischen Mathematiker-Jargon.

Darüber denke ich nicht mehr nach.
Ich mache einfach Abstriche an meinen Germanistik-Ansprüchen,
ich folge der Anweisung wie einem Backrezept:
Man nehme 200g Mehl, Milch, Butter, Kakao, sowie einen Kreis k beliebiger Größe, vermische , schüttle , füge einen rechten Winkel sowie ein halbes Pfund gute Laune hinzu, gedenke 5 Minuten des ehrwürdigen Adam Riese und erhitze auf 350Grad Celsius. Mit etwas Glück erhält man Schwarz-Weiß-Gebäck.
viele Grüße, anne


Geschrieben von: feder am: 21.03.10, 21:47:42
"es sei k ein kreis" und ähnliche Äusserungen habe ich bislang als Jussiv interpretiert, da es an sich keine zwingende Verbindung zwischen k und einem Kreis gibt und es somit eine Aufforderung darstellt, diese Verbindung herzustellen. Gleiches gilt wohl auch für Backrezepte u.ä. Ist vielleicht heutzutage keine übliche Formulierung mehr, scheint sich aber in bestimmten Bereichen gehalten zu haben.

Das Zitat aus dem Selbsterkenntnis-Experiment ist interessant. Ähnliches liess sich familiär beobachten, wenn ich etwas äusserte, was seltsame Reaktionen hervorrief. Klärungsversuche meinerseits endeten dann meist damit, dass behauptet wurde, das zuvor geäusserte und die Erklärung dazu könnten unmöglich zusammenpassen und ich solle mich nicht so aus der Affäre ziehen. Allgemein scheint es so zu sein, dass bereits vermeintlich verstandene Aussagen nur schwer berichtigt werden können. Tragisch finde ich, wenn basierend auf solchen Missverständnissen weitere Missverständnisse aufbauen, die sich dann genausowenig klären lassen.


Geschrieben von: Fundevogel am: 21.03.10, 21:50:14
Wenn die Mehrheit der Bevölkerung eine Mixtur von individueller Interpretation und Bildvorstellungen als Realität betrachtet und Autisten die tatsächliche Wortwahrnehmung real finden, wird man mit der Tatsache leben müssen, dass es diese zwei oder noch andere Systeme gibt;)

Wenn sich Nichtautisten anstrengen, können sie sich von dem Interpretationsüberbau lösen und Wort für Wort von A verstehen. In Sachgesprächen wäre das für sie sehr vorteilhaft.
In der Beziehungsgestaltung würden sie eher nicht darauf verzichten wollen, weil ihnen Irrtümer, positive Aufregungen, Heimlichkeiten etc. Spannungsmomente ins Leben bringen - Comedia del arte!

Es ist so, dass bei falscher emotionaler Auslegung die Verständigung in vielen Fällen abbricht, anstatt eine Richtigstellung herbei zu führen. Wenn die Aussage eine vermeindliche Beleidigung enthielt, führt das in nicht wenigen Fällen sogar zum Abbruch der Beziehung. In guten Freundschaften wird im Regelfall die Rückfrage gestellt.

"Interpretation" ist ein fester Bestandteil der Deutsch-Unterrichtung, es findet also der Versuch einer Leitung der Phantasien statt.

Man sagte mir nach, dass ich in diesem Fach über viel Phantasie verfügte.
Ich habe aber die Texte nach mathematischen Gesichtspunkten interpretiert. Erst sammelte ich die Informationen aller Worte und dann stellte ich sie in einen Zusammenhang und stellte die ermittelten Situationen als mögliche Deutungen heraus (ähnlich einem Puzzle).

Beispiel: Paul Celan "Sprachgitter"

Augenrund zwischen den Stäben

(Meine Stoffsammlung: Augen = Sehorgan, nicht rund, aber umgangssprachlich als rund bezeichnet - zwischen ist inmitten von etwas, was links und rechts, oben und unten ist, Stäben = erstmal nur Stäbe suchen, die mit Augen zu tun haben können, da vorgenannt, durch welche Stäbe schauen Augen, aha in der Überschrift wird von Gitter gesprochen, es werden also wahrscheinlich Gitterstäbe sein, Gitterstäbe sind in Industrieanlagen, Botschaften, Gefängnissen, mal schauen, welche der 3 Möglichkeiten im nachfolgenden Text zutreffen können

Flimmertier Lid
rudert nach oben,
gibt einen Blick frei.

(es flimmert mir vor Augen, kann zu Auge passen - Tier? was Tierisches??? In Augenflüssigkeit gesehene Amöbentierchen - klappt bei geschlitzten Augen? Lid = endlich mal ein Wort, das einen klaren Sinn hat und nun rudert es nach oben. Rudern = schwere oder leichte Tätigkeit über Wasser, je nach dem, ob mit oder gegen den Strom gerudert wird, bleibt also offen, da keine weitere Erwähnung, was das Rudern betrifft, es geht jedenfalls nach oben auf Augenflüssigkeit, ein Augenaufschlag? aja, es gibt einen Blick frei, Fazit: Es schauen Augen durch Gitterstäbe, in der nächsten Zeile sind sie aber geschlossen, weil da erst das Auge aufgeschlagen wird und ein Blick erstmal da ist

Iris, Schwimmerin, traumlos und trüb:
der Himmel, herzgrau, muss nah sein.

Aha, Recht gehabt mit den bisherigen Spekulationen, es ist eine Iris da, die schwimmt, traumlos, muss wohl eine Methaper sein, Auge kann nicht traumlos sein, wann ist etwas traumlos: Tiefschlaf, kann nicht sein, wer blickt ist wach, Tagtraum? Dabei sind die Augen geöffnet, ohne wirklich zu blicken? 3. Möglichkeit Kummerblick = erfroren trotz des geöffneten Auges, aha, hier könnte eine Zusammenführung des Gitters und des Blickes erfolgen, ein Blick der blind geworden ist und den Himmel nicht sehen kann. Hier wieder 2 Möglichkeiten: Himmel ist durch die Stäbe nicht zu sehen, weil im Erdgeschoß liegende Zelle oder Metapher für nahes Sterben? Könnte innerlich schon gestorben sein, da herzgrau: ums Herz grau? usw....

Schräg, in der eisernen Tülle,
der blakende Span.
Am Lichtsinn
errätst du die Seele.

(Wär ich wie du. Wärst du wie ich.
Standen wir nicht
unter einem Passat?
Wir sind Fremde.)

Die Fliesen. Darauf,
dicht beieinander, die beiden
herzgrauen Lachen:
zwei Mundvoll Schweigen.

Forthebeautyoftheearth


Geschrieben von: Paula am: 21.03.10, 22:40:38
Meine Tochter und ich bemerken schon, wenn wir aneinander vorbei reden. Ich kann nur sagen, dass ich mehr im Wort-Inhalt bin. Vielleciht kann ich es eher als "SYmbolhafte" Bedeutung umschreiben. Dann benutze ich Worte, die sinngemäß stimmig sind, aber nicht unbedingt korrekt. Das interessiert mich dann auch nicht. Aber meine Tochter bemerkt es sofort und verbessert mich dann.

Oft werden Redewendungen eben nicht wort-wörtlich gemeint sondern beschreiben eher ein Gefühl oder ähnliches. Manchmal kann ich darüber lachen, wenn mir bewußt wird, dass die wort-wörtliche Bedeutung etwas anderes meint als das, was ich sagen wollte.

Oder ich erwische meine Tochter, dass sie etwas nicht korrekt gesagt hatte und bin dann wort-wörtlich. Wir können damit freundschaftlich und humorvoll umgehen.

Zitat:
azrael
wie das jedoch genau funktioniert, einen satz eigentlich nicht zu lesen und trotzdem der festen meinung zu sein, irgendetwas wäre zu lesen gewesen, interessiert mich ebenfalls.


Mich interessiert das auch. Wahrscheinlich liegt es bei mir daran, das ich gefühlsgeladen lese und Worte in einen Sinn übersezte, den sie meinen könnten, aber nicht gemeint haben.

Mir ist es sogar hier passiert, das ich 100% überzeugt war, dass hier geschrieben wurde, sei sei "irrelevant" ob ich Diganosen als positiv empfinde. Das stand wirklich niergends. Aber die Amophäre kam für mich so rüber....denn ich fühle Texte. Manchmal liege ich dann wohl daneben.

LG
Paula


Geschrieben von: anne1 am: 22.03.10, 21:35:19
Hallo, Feder,
"Jussiv":
vielen Dank für die Information
Gruß,
anne


Geschrieben von: feder am: 23.03.10, 22:36:14
Mit welcher Methode würden eigentlich andere NA das Gedicht von Celan interpretieren? Auch Wort für Wort?
Und wie würden das A machen?

Würde sich an der Herangehensweise etwas ändern, wenn noch zusätzlich bekannt wäre, dass das Gedicht namensgebend für einen Gedichtband von Celan war?


Geschrieben von: Fundevogel am: 27.03.10, 07:47:58
feder: Gedichte, in denen sich nicht des eingeübten Wortschatzes oder der bekannten Wortbedeutung bedient wurde, überfordern die meisten NA, die erkennbare Signale eines Textgebäudes brauchen, um sich "ein Bild" machen zu können.

NA's, die einen Text Wort für Wort aufbauen können, haben kaum Probleme mit moderner Lyrik.

Ich habe aber vereinzelt auch NA kennen gelernt, denen sich die Stimmung eines Gedichtes augenblicklich aufschloss, ohne dass sie auf bekannte Sprach-Muster trafen.

Soweit ich das beurteilen kann, würde sich die Herangehensweise nicht ändern, weil es namensgebend...war.

Die Herangehensweise würde sich aber ändern, wenn die Lebensumstände und die psychische Grundsituation des Dichters bekannt wären (Krieg, Holocaust, depressiver Mensch, Schicksalsschläge / frisch verliebt, vermögend etc.). Sinngemäß: "Ahhh, der Dichter war krank, als er das schrieb, kein Wunder dass der Text so lebensabweisend rüberkommt."

Wie falsch man mit einer solchen Situations-Definition liegen kann, hat Trude Herr in einem Theaterstück eindrucksvoll vorgeführt. Sie spielte mit der blinden Erwartungshaltung des Publikums, in dem sie mit den sprachlichen Mitteln einer oberflächlichen Kommodie eine Tragodie spielte. Die Zuschauer waren vollkommen verwirrt, weil die Situationskomik von ihr grandios unmerklich dahin gelenkt wurde, dass das Lachen im Halse erstickten mußte. Die meisten der Zuschauer warten wahrscheinlich heute noch auf das Happy End;)

Forthebeautyoftheearth