Zitat:
Am Abend versammeln wir uns im Zelt des Schamanen. Draußen ist es stockdunkel. Die Sterne und die Augen der Rentiere funkeln. Es ist spät, und Kasimir schläft bereits vor dem ersten Trommelschlag. Er hat es sich hinter uns auf einer Matratze gemütlich gemacht. Lotte hingegen ist voller Wut und kaum zu bändigen. Vielleicht, weil sie müde und angestrengt ist. Wacholderzweige werden angezündet, es duftet. Ganbaa, der Schamane, wird von zwei Frauen mit einem zotteligen schwarzen Mantel, einer Federkopfbedeckung, einer Maske und dicken Stiefeln bekleidet. Dann fängt er an zu trommeln und zu tanzen. Leises Singen ist zu hören. Lotte wird immer ruhiger und aufmerksamer. Nach einer Weile bewegt sie ihren Oberkörper rhythmisch vor und zurück. Weiße Stofffetzen flattern gespenstisch neben der Trommel. Das Singen und Trommeln wird lauter. Ganbaa beginnt zu schwanken und wirkt bereits wie in Trance. Plötzlich bleibt er stehen und reckt seinen Kopf so weit nach oben, als wollte er die vielen Sterne vom Himmel saugen. Die Trommel schweigt jetzt. Nur die Glöckchen vibrieren an Ganbaas Mantel. Ein gewaltiges Zucken durchfährt seinen Körper.
Wir werden angewiesen, uns nacheinander vor den Schamanen hinzuknien. Ich ziehe Lotte hoch und schleppe sie in die andere Ecke des Zeltes, wo wir uns gemeinsam vor Ganbaa hocken. Lotte beißt sich in die Hand, gibt aber keinen Laut von sich. Mein Herz klopft schnell. Ich habe von Tulga viel über schwarze Magie, böse Mächte und schwere Krankheiten erfahren. Er liebt es, geheimnisvolle Geschichten über Schamanenkämpfe und den Missbrauch von Magie zu erzählen. All das geistert in meinem Kopf umher und vermischt sich mit dem muffigen Geruch des Mantels. Was wohl Lotte jetzt denkt? Vielleicht mute ich ihr zu viel zu? Ich habe Lotte nie gefragt, ob sie mit diesem Experiment einverstanden ist. Einer meiner großen Wünsche besteht darin, nur für ein paar Minuten die Welt so wahrzunehmen, wie Lotte sie sieht und spürt. Gerade in diesem Moment.
Ein leichtes Rütteln an meiner Schulter holt mich zurück aus meinen Gedanken. Ganbaas Frau deutet mir an, dass ich aufmerksam sein soll. Ganbaa beugt sich zu Lotte und mir und riecht intensiv an unserer Kopfhaut. Dann wird ihm ein kleiner, mit Wodka gefüllter Holzbecher gereicht, den er auf seine Trommel stellt.
Beim ersten Schlag fliegt der Becher in die Luft. Ich soll ihn fangen. Es gelingt mir nicht. Später erklärt man uns: Lande der Becher mit der Öffnung nach oben, spreche dies für einen ausgeglichenen Zustand der Seele. Zeige die Öffnung nach unten, benötige die Seele Hilfe zur Stärkung. Und bei uns sei das der Fall. Zuerst bekommen Lotte und ich einen kleinen Schluck Wodka. Auf Anweisung reibe ich Lottes Achseln und Schienbeine mit dem Wodka ein. Ein Trommelsturm baut sich über unseren Köpfen auf. Lotte lacht. Wie durch einen Sog kommen Ängste und Kummer in mir hoch. Tränen laufen über meine Wangen. Ganbaa tanzt wild vor und zurück. Die Zotteln seines Mantels peitschen uns ins Gesicht. Mit kleinen seitlichen Schritten bewegt er sich schließlich zum Zeltausgang. Es sieht so aus, als befördere er etwas Unsichtbares hinaus in die Nacht. Der Schamane verschwindet in der Dunkelheit. Es ist sehr kalt geworden. Die Frauen zünden den Ofen wieder an. Sie verteilen warmen Tee und stellen eine große Schüssel mit Bonbons in unsere Mitte. Lotte ist begeistert. Ständig sagt sie »Nochmal« und winkt allen fröhlich zu. Kasimir schläft.
Als der Schamane wieder erscheint, wirkt er blass und zerbrechlich. Wir sitzen im Kreis, und der Holzbecher mit Wodka macht die Runde. Die magische Welt um uns herum verblasst ein wenig. Ganbaa erzählt, und Tulga übersetzt: Während der Schwangerschaft sei ich von bösen Mächten attackiert worden. Diese Energie habe die Geburt gestört und die Komplikationen verursacht. Jetzt seien die Störfaktoren beseitigt worden, wir müssten uns nicht weiter ängstigen. In Zukunft werde Lotte ausgeglichener sein und besser schlafen.
Am nächsten Morgen öffnet Lotte ihre Augen und brüllt wie gewohnt lauthals los. »Lotte, are you okay?« Tulgas Frage zaubert immer wieder ein Lächeln in Lottes Gesicht. Sie kann noch so schlecht gelaunt sein, Tulgas Stimme scheint sie zu beruhigen, und sie beantwortet seine englische Frage mit »Ja«. Wahrscheinlich versteht sie an dem Singsang, was er meint.
[...]
Als wir die Reste des Ongi-Klosters besichtigen, einer buddhistischen Klosteranlage, fängt Lotte an, sich heftige Beißwunden an den Händen zuzufügen. Sebastian schiebt seine brüllende Tochter geduldig durch die Ruinen. Tulga erzählt uns, dass die Sowjets hier mehrere hundert Mönche gefoltert und getötet haben. Lottes Brüllen wird immer verzweifelter. Auch Tulgas Stimme beruhigt sie nicht. Wir machen uns Sorgen. Sebastian versucht ihr etwas zu essen und zu trinken zu geben. Nichts hilft. Sie wirft die Wasserflasche und die Kekse auf den Boden. Erst als Tulga seine Vermutung äußert, dass Lotte das Leid der getöteten Mönche spüre, verändert sich die Situation. Ich versuche, mich auf ihren Schmerz einzulassen und mit Verständnis und Mitgefühl auf das Gebrüll zu reagieren. Und wirklich, Lotte hört auf zu schreien und beginnt, bitterlich zu weinen und zu schluchzen. Dicke Tränen tropfen in ihren Schoß. Es dauert lange, bis Lotte wieder lächeln kann. »Are you okay?«, fragt Tulga. Und ein ganz leises »Ja« ist zu hören.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Lotte Gefühle und Dinge wahrnehmen kann, die uns verborgen bleiben. Vielleicht ist Lottes Behinderung nur aus unserer Sicht eine Behinderung. Vielleicht sind wir in unserer Wahrnehmung eingeschränkt und können deswegen Lotte nicht immer verstehen.
Lottes Verhalten uns gegenüber lässt sich gut in Schwarz und Weiß einteilen. Entweder ist sie euphorisch und unkontrolliert laut, oder sie ist schlecht gelaunt und schreit aggressiv. Grautöne erleben wir selten. In der Schule oder auf integrativen Ferienreisen ist das anders. Dort hat sie nie, wirklich nie schlechte Laune. Sie ist aufgeschlossen, geduldig und fröhlich. Häufig still und zurückhaltend und manchmal auch albern. In der Schule lernt sie, selbstständiger zu werden, allein mit einem Löffel zu essen und auf die Toilette zu gehen. Auch ihre kognitiven Fähigkeiten werden dort gefördert. Mithilfe eines Computers kommuniziert sie sogar mit den Lehrkräften. Sie tippt zum Beispiel, ob sie lieber Wurst oder Käse auf das Frühstücksbrot haben möchte. Im Rechnen ist sie die Beste in der Klasse. Manchmal zweifle ich, ob wir wirklich alles richtig machen.
[...]
Ich habe lange gebraucht, um über diese Reise schreiben zu können. Nach der Rückkehr hatte uns der Alltag sehr schnell wieder im Würgegriff. Zu unserem schon wahnsinnigen Leben kamen Operationen an Lottes Hüften und schwere epileptische Anfälle hinzu. Zudem leben Sebastian und ich mittlerweile getrennt, die Kinder pendeln hin und her. Trotz alledem bin ich mehr und mehr in der Lage, auch die Fülle in unserem Leben zu sehen. Die Reise hat meine Einstellung zu unserem Leben geändert. Mein Blick auf die Dinge, die wir aufgrund von Lottes Behinderung nicht machen können, ist schwächer geworden, und die Freude an der Herausforderung größer – auch wenn wir weiter Probleme mit Lottes Aggressionen haben. Ich mute ihr und mir jetzt mehr zu. Und Lottes kognitive Fähigkeiten sind bei Weitem höher ausgebildet, als wir je zu hoffen gewagt haben. Sie kann mittlerweile ganze Sätze auf ihrem Tabletcomputer schreiben. Jetzt sitze ich beim Frühstück neben ihr und warte, bis sie mir schriftlich mitteilt, was sie essen möchte. Die Reise hat nicht bewirkt, dass sich Lottes mentaler Zustand extrem verändert hätte. Aber sie hat dazu geführt, dass wir mit Lotte viel mehr auf Augenhöhe kommunizieren können. Und das scheint ihre Entwicklung enorm zu fördern.