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Ritalin ist die neue Modedroge der Leistungsgesellschaft: Kaum ein Großprojekt, kaum ein Vertragsabschluss kommt noch aus ohne den kleinen Bruder des Kokains. Ist das nicht furchtbar? Ein Selbstversuch.
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Natürlich spielt Rita nicht in der gleichen Liga wie LSD oder Ecstasy - sie wirkt nicht rauschhaft, macht keine Halluzinationen. Darum ist die Substanz für Tätigkeiten geeignet, die stark rational und strukturiert sind, Fleiß und Konzentration erfordern. Chemieformeln büffeln, Paragrafen auswendig lernen, zehn Stunden im OP stehen, nach einem langen Flug einen Vortrag halten. Tatsächlich, am dritten Tag schlucke ich die Pille abends, und der angestaute Bürokram erledigt sich bis spät in die Nacht wie von selbst.
Hedonistisch, so viel ist bereits klar, macht die Pille nicht. Drogen werden gern Generationen zugeteilt: LSD steht für die Rebellion gegen den bürgerlichen Mief in den 70er-Jahren. Mit Kokain plusterten die Yuppies in den 80ern ihr Ego auf. Ecstasy gehörte der 90er-Spaßjugend. Konsumenten von Neuropsychostimulanzen wie Ritalin erhoffen sich einen Gewinn der geistigen Produktivität. Als Droge der Vernunft passt es in unsere auf Leistung und Effizienz getrimmte Zeit.
Man vergnügt sich nicht mit Ritalin, das wegen seiner Eigenschaften auch als Mikro- oder Nanokokain gilt. Man fühlt sich großartig, hält vieles für machbar. Man überschätzt sich schnell. Kaum Selbstzweifel. Weil sich die Leistungsbereitschaft auf den Körper überträgt, ist Ritalin in der Partyszene angekommen. Nach der Einnahme steigt die Pumpkraft des Herzens, die Muskulatur wird besser durchblutet. Ich gehe mehrmals joggen und renne sogar die vielen Treppenstufen zu meiner Wohnung hoch, was ich noch nie geschafft habe. Als wären an meinen Füßen Sprungfedern befestigt.
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Genauso fehlt die Muße zum Rumliegen, zum Sich-Langweilen. Ins Freibad gehen oder arbeiten? Arbeiten! Wenn Ritalin ADHS-Betroffenen hilft, sich zu organisieren, nicht ständig ihren Impulsen nachzugeben und das zu tun, worauf sie gerade Lust haben, so wirkt es bei mir als Triebkontrolle. Immerhin habe ich während dieser Woche privat ein neues Hobby gefunden: Wir spielen nun allabendlich Schach.
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Am vierten Tag fühle ich mich zum ersten Mal ausgebrannt. Ich will die Pille erst am Nachmittag schlucken. Um wacher und aktiver zu werden, wäre jetzt zwar Ritalin nötig. Nur mit der nahtlosen Einnahme vermeide ich den "Rebound", wie man den Zustand nennt, wenn die Wirkung nachgelassen hat - den Sturz in ein Energieloch. Beginnt die Pille zu wirken, verschwinde ich im Text. So geht es weiter, am fünften, sechsten, siebten Tag. Es schreibt und schreibt und schreibt. Zahlen über den unerlaubten Ritalinkonsum in Deutschland gibt es naturgemäß kaum - fest steht nur, dass das Medikament heute um ein Vielfaches häufiger verordnet wird als je zuvor.
Mit einer Zunahme von ADHS-Kindern allein ist das nicht zu erklären. In den USA dopen sich auf manchem Campus bis zu 25 Prozent der Studierenden mit verschreibungspflichtigen Stimulanzen. In einer Umfrage im April 2008 wollte die Fachzeitschrift "Nature" von ihren Lesern wissen, wie viele schon Ritalin oder das Narkolepsie-Medikament Modafinil geschluckt haben, um ihren Fokus und ihr Gedächtnis zu schärfen. Jeder Fünfte hatte schon. 86 Prozent der 1400 Teilnehmer fanden, dass gesunden Erwachsenen der Zugang zu Smart Drugs erlaubt sein sollte, und sahen in den leichten Nebenwirkungen ein annehmbares Risiko. Eine Umfrage in Deutschland zu "Doping am Arbeitsplatz" ergab, dass 13 Prozent Medikamente gegen Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen einnehmen.
Die ganze letzte Woche habe ich Ritalin genommen: Mit Ausnahme von mal 15 und mal 20 Milligramm immer nur eine Pille. Obwohl es an müden Tagen von Vorteil sein kann, sich an die Arbeit zu setzen, ohne einen Sinn zu hinterfragen, hat das Gefühl der Hyperfokussiertheit rückblickend etwas Erschöpfendes. Das Medikament eignet sich dann, wenn man sich an eine Tätigkeit peitschen muss und sich von jeder Mücke ablenken lässt. Aufgeputscht erlebte ich das Zwischenmenschliche als eher mühsam.