Zitat:
Zum einen will man offenbar mit dem Diktum »Der Islam gehört zu Deutschland« und entsprechenden symbolischen Gesten die Integrationsbereitschaft der muslimischen Minderheit erhöhen. Zugleich wird zumindest mit sanften Mitteln eine theologische Reformierung des Islam gefördert, die ihn von seiner Scharia-Last befreien soll.
Eine theologische Reform, die den Islam auf seine spirituellen und ethischen Dimensionen zu reduzieren versucht, ist aber auf intellektuell ehrliche Art und Weise nicht zu haben. Die von deutschen Intellektuellen hochgelobten »humanistischen« Lesarten des Korans stoßen bei muslimischen Gemeinden vielmehr auf Widerstand.
Der Koran ist nicht nur ein Buch über Gott, den Sinn des Lebens und das Jenseits. Darin werden auch zahlreiche verbindliche Regelungen für das Diesseits getroffen. Neben Anweisungen über den heiligen Krieg finden wir etwa ehe-, scheidungs-, erb- und strafrechtliche Vorschriften. Viele davon sind mit modernen Wertvorstellungen kaum in Einklang zu bringen.
[...]
Anders als das christliche Verständnis von der Bibel ist der Koran aber nach eigener Behauptung unmittelbares Wort Gottes. Der Sprecher ist Gott persönlich. Der Koran wurde also nicht von einem Menschen durch göttliche Inspiration verfasst, so dass in den Text eigene Vorstellungen mit einfließen konnten. Er ist vielmehr die direkte und wörtliche Gottesrede. Die Anordnungen im Koran werden nicht in Erzählungen eingebettet, sondern als unmittelbare, imperative Rede ausgesprochen. Muslimische Theologen haben daher nicht die gleichen Spielräume wie die christlichen Exegeten.
[...]
Also werden unbequeme Passagen einfach totgeschwiegen. Moderate Muslime konzentrieren sich auf die erbaulichen, spirituellen oder ethisch motivierenden Stellen. Fast alle wissen zwar, dass es da auch noch »die anderen Stellen« gibt. Sie spielen aber in der Praxis keine Rolle.
Es ist eine stille Reform durch Ignoranz. Ihr Nachteil ist, dass das verdrängte Wissen sehr leicht reaktiviert werden kann. Dazu braucht man keine Extremisten.
[...]
Manche Reformer ändern die Bedeutung der unzeitgemäßen Koranverse einfach ab. Die Fälschung geschieht meist im Zuge der Übersetzung, zuweilen aber auch durch Interpretation. Peinlicherweise müssen diese Interpreten behaupten, dass die entsprechenden Stellen vierzehn Jahrhunderte lang von allen arabischen, persischen, türkischen, indischen Gelehrten sämtlicher Richtungen und Rechtsschulen missverstanden wurden.
In seinem Buch »Islam ist Barmherzigkeit« führte zum Beispiel Mouhanad Khorchide aus, Muslim im Sinne des Korans sei jeder, der mit seinem barmherzigen Verhalten gegenüber anderen Geschöpfen »Ja« zu Gottes Liebe sagt, »auch wenn er nicht bewusst an Gott glaubt«. Dabei ließ er freilich alle Koranverse, die seiner weiten Muslim-Definition eindeutig widersprechen, einfach weg, von zahllosen Hadithen ganz zu schweigen. Inzwischen hat der Autor in der neuen Taschenbuchausgabe die betreffenden Stellen überarbeitet, ohne dass wirklich klar wird, ob er seinen Standpunkt revidiert hat oder nicht.
Dass muslimische Gemeinden solche Aussagen strikt von sich weisen, ist nicht Ausdruck einer besonders fundamentalistischen Gesinnung. Diese Ablehnung folgt aus der Glaubensprämisse, dass der Koran die Rede Allahs ist. Selbstverständlich eröffnet der Koran einen weiten Raum für unterschiedliche Auslegungen. Dennoch gibt es eine Grenze zwischen noch vertretbaren und nicht mehr vertretbaren Interpretationen. Auch darüber, wo diese Grenze verläuft, kann man streiten. Eine Auslegung aber, wonach Muslime auch rechtschaffene Non-Theisten sein könnten, scheint nicht mehr diskussionswürdig. Es nützt niemandem, den Koran dermaßen zu entstellen, um dann unter westlichem Beifall muslimischen Kritikern Rückständigkeit vorzuwerfen.
[...]
Von der großen Mehrheit der Muslime wird eine generelle historische Relativierung koranischer Vorschriften dennoch als offene Häresie abgelehnt. Im Koran finden wir nämlich keine einzige Stelle, die eine generelle Aufhebung der Vorschriften legitimieren könnte. Stattdessen wird ausdrücklich erklärt, kein Muslim habe ein Recht auf eigenes Ermessen, wo Allahs Entscheidung gefallen sei (33:36). Das Urteil über alle Uneinigkeiten stehe allein Allah zu (42:10). Allah ordne an, was er wolle (5:1). Wahre Gläubige würden lediglich »wir hören und wir gehorchen« rufen (24:51). Etwas könne den Menschen zuwider sein kann, während es eigentlich gut für sie ist; denn allein Allah wisse, was gut für sie ist (2:216). In vielen Koranversen wird ein Abweichen von konkreten Anordnungen strengstens untersagt.
[...]
Aus muslimischer Binnensicht spricht gegen die historische Lesart ferner, dass sie einer Selbstaufhebung des gesamten Islam Tür und Tor öffnet, was den Gelehrten und Imamen der muslimischen Verbände natürlich nicht entgeht. Denn nicht nur die problematischen, sondern alle Anordnungen des Islam wären von dieser Herangehensweise betroffen.
Quellen berichten, dass beispielsweise die rituellen Waschungen, bestimmte Körperhaltungen des Gebets, das Fasten, die Pilgerfahrt nach Mekka, das Umschreiten der Kaaba, das Einkleiden des Verstorbenen in sein Totengewand – also nahezu alles, was heute als islamisch gilt, bereits von den polytheistischen Arabern der vorislamischen Zeit praktiziert wurde. Nach historischer Lesart muss Allah auch hierbei die vorislamischen Traditionen der Araber berücksichtigt haben. Womöglich war das notwendig, um die Götzenanbeter möglichst schonend mit vertrauten Praktiken zu einem monotheistischen Glauben hinzuführen. Warum, so könnte man mit dem Rückenwind der historischen Auslegung fragen, sollte es für einen Muslim immer noch eine religiöse Pflicht sein, diese ursprünglich heidnischen Rituale zu praktizieren?
[...]
Die Vertreter der historischen Lesart können keine überzeugenden Argumente dafür bieten, warum ihre Methode nur die problematischen Vorschriften betreffen soll – außer natürlich der Tatsache, dass diese Vorschriften als problematisch angesehen werden.
Außerdem wäre zu fragen, warum Allah keine neuen Gesandten mit aktuellen Geboten geschickt hat, wenn die Anordnungen im Koran gar nicht überzeitlich gemeint waren.