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Jahr um Jahr wird das Fest mehr zum Rätsel: Was wird denn an Weihnachten gefeiert? Stabile Mehrheiten bekommen die Antworten, es handele es sich um das „Fest der Liebe“ oder ein „Fest der Familie“. So äußern sich Prominente, fragt man sie nach ihrem persönlichen Weihnachten, das dann doch nur ein typisches ist: Heimkehr, Friede, gutes Essen, der Weihnachtsbaum als Geschenkeabwurfstelle. Den Deutschen ihr Weihnachten zu vermiesen, ist noch keinem Regime gelungen, denn die Deutschen sind Familienmenschen, Brauchtumsmenschen, Nostalgiker.
Die Ahnung, es sei ein religiöses Fest, ein christliches zumal, ist vorhanden, wird aber selten formuliert. Wer hörte je von einer Umfrage, in der die theologisch richtige Antwort zu hören wäre, an Weihnachten feiere die Kirche die Geburt Jesu Christi, des Gottessohnes, Gott und Mensch zugleich, Heiland und Erlöser aller Menschen? Von der „dramatischen und krisenhaften Seite“ (Gilbert Keith Chesterton) des teils kommerziell verkitschten, teils individuell umgedeuteten Festes ist nirgends die Rede. Die Familie Jesu floh von Bethlehem nach Ägypten, um den Häschern des Herodes zu entgehen, und verbrachte dort rund vier Jahre – ein Vorzeichen des schändlichen Todes auf Golgatha. „Die religiöse Bedeutung von Weihnachten“, so abermals Chesterton, „ist für das moderne Denken in höchstem Maß anstößig“. Weihnachten beschwört letztlich Kreuzigung und Verfolgung herauf, nicht Kommerz und Schlemmerei.
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Die faktisch vereinigte katholisch-protestantische Neokirche läuft leer im hohen Betrieb. Da wird gesungen und gepredigt, was das Zeug hält, vor endlich einmal passabel gefüllten Reihen, und es fehlt, was fast immer fehlt in der Neokirche: der Sinn für das Besondere. Die Freude am heiligen Spiel, das sich gleich weit entfernt halten muss von den Aufgeregtheiten des Tages wie den Versuchungen der Subjektivität, um zu gelingen. Weshalb es meistens scheitert, nicht nur zur Weihnachtszeit.
Die kirchlichen Weihnachtsbotschaften des Jahres 2015 werden, wenn kein Wunder geschieht, wenig mit Weihnachten zu tun haben. „Jesus war Flüchtling“ werden wir bis zum Überdruss hören. Die zweckentfremdete Turnhalle mit Menschen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea sei der neue Stall zu Bethlehem. Krieg könne nie ein Mittel zum Frieden sein. So reden die Kirchenleute hierzulande, im Speckgürtel der Wohlfahrtspflege, und etablieren eine eigentlich überwundene Drohbotschaft neu, in Tateinheit mit Ablasshandel und Gewissensdruck: Wehe dem, der nicht willkommenskulturell Spalier steht und seine Geldbörse in der Kollekte weit öffnet. Ihn trifft der Bannspruch der Neokirche.
Weihnachten heißt auch Missionieren
Doch wer das größte Mysterium der Menschheitsgeschichte in der winzigen Münze der aktuell guten Gesinnung ausbezahlt, der hätte besser geschwiegen. Staatsfrommes Politisieren ist noch keiner Glaubensgemeinschaft bekommen. Es bedeckt notdürftig eine missionarische Unlust. Wer an die Einmaligkeit dieser Menschwerdung glaubt – niemand muss es, aber von Kirchenleuten sollte man es erwarten –, der darf den missionarischen Imperativ von Weihnachten nicht beiseite schieben. Mit den Heiligen Drei Königen kam die heidnische Welt zu jener Krippe, die in einer Höhle lag. Eine Nutzanwendung daraus hieße, den Ein- und Zuwandernden die Botschaft Christi anzubieten und ihnen den Übertritt schmackhaft zu machen. Ob es gelänge oder nicht, stünde dahin, doch wer aus christlichem Geist nur Suppen und Decken gibt und nicht auch Christus, der gibt in christlicher Hinsicht zu wenig.
Natürlich verließen Maria, Josef und Jesus unfreiwillig und vorübergehend ihre Heimat. Sie waren Vertriebene, ehe sie nach Herodes' Tod zurückkehrten. Man kann daraus ableiten, die Kirche stehe an der Seite aller Heimatlosen und Geflohenen, muss es aber längst nicht so wuchtig, so einseitig, so tugendstolz herauskehren, wie es die Neokirche tut. Und man kann daraus ebenso eine besondere Fürsorgepflicht für geflohene Christen ableiten. Der Philosoph Robert Spaemann erinnerte nun an die augustinische „Rangordnung der Liebe. Wo unserer Hilfe Grenzen gesetzt sind, da ist es auch gerechtfertigt auszuwählen, also zum Beispiel Landsleute, Freunde oder auch Glaubensgenossen zu bevorzugen.“ Und dass die Familie des selbständigen Handwerkers Josef von Nazareth arm gewesen sein soll, gehört ins Reich der Legenden.
In seinem berühmten Essay von 1929, „Wenn ich nur eine einzige Predigt zu halten hätte“, schrieb Chesterton, diese einzige Predigt „müsste eine Predigt gegen den Stolz sein. Je mehr ich das Leben kennenlerne (…), desto mehr überzeugt mich die alte religiöse These, dass alles Böse mit dem Hochmut anfing.“ Und er fuhr fort: „Stolz besteht darin, dass der Mensch seine eigene Person und nicht die Wahrheit zum Maßstab aller Dinge macht.“
In diesem Sinn werden die verbliebenen 28 Prozent an Weihnachten zahllose Predigten einer sehr satten und sehr stolzen Kirche hören. Es ist ein Stolz, der im Gewand der Demut daherkommt und keinen Raum lässt für Zweifel, für Nachfragen, keinen Raum für das heilige Spiel und den missionarischen Imperativ. Seht her, wird es zwischen Trompetenklang und Weihrauchduft heißen, seht her, wie sehr wir doch auf dem richtigen Pfad sind, wie geschlossen wir der richtigen Politik applaudieren, wie wunderbar wir in diese Welt hinein passen. Vielleicht ist der Letzte, der das Licht bald ausmacht, schon geboren.