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In Deutschland zählen die Außen- und Europapolitik nicht gerade zu den Stärken. Hier herrschen moralisierende Vorstellungen von internationaler Politik. Glaubt man der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dem wohl wichtigsten deutschen außenpolitischen think tank, dann handelt es sich dabei um „außenpolitischen Autismus“. So jedenfalls Professor Hanns Maull, seines Zeichens Senior der SWP. Sein jüngster Aufsatz zum Thema hat es in sich, erschienen ist er im Sammelband von Volker Stanzel „Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik. Diplomatie im 21. Jahrhundert“.
Ganz so neu ist diese Wirklichkeit zwar nicht, wie die zehn Aufsätze des Sammelbandes zeigen: Hinweise in den meisten Beiträgen, daß sich Außenpolitik bzw. die Tätigkeit von Diplomaten durch neue Akteure, Digitalisierung und größere Öffentlichkeiten geändert hat, kann diesen vom Auswärtigen Amt geförderten Band nicht unbedingt rechtfertigen: dies tut nahezu ausschließlich der Aufsatz zum „außenpolitischen Autismus“. Und der habe, so Maull, vor allem vier Aspekte: Er beschreibe Muster von Verhalten, die unangemessen sind, die „Interessen des Staates und seines Volkes zu realisieren“, er könne „Folge politischer Fehlentwicklungen oder von emotional aufgeladener Politik“ sein oder Folge „übermäßig taktischer Nutzung außenpolitischer Inhalte für innenpolitische Manöver“. Und er könne hervorgerufen sein durch grobe Verzerrungen „aufgrund emotional aufgeladener kollektiver Einstellungen“ oder „Schuldgefühle wegen vergangener Ereignisse“, die als „emotionaler Ballast“ dazu führten, „daß sich Staaten kognitiv abschotten und Beobachtungen nicht mehr zur Kenntnis nehmen, die den eigenen Gefühlen und Weltbildern nicht entsprechen“, ja sich „hermetisch gegen Korrekturen an der Realität“ abschließen.
Dies ist starker Tobak, fußt aber auf den politikwissenschaftlichen Vorarbeiten von Karl W. Deutsch und Dieter Senghaas, der diesen Ansatz als kritischer Friedensforscher einst für seine Kritik an der nuklearen Abschreckung nutzte. Dazu Maull: Interessant sei dabei vor allem das grundsätzliche Argument, wonach Staaten genau wie Individuen politische Defizite entwickeln könnten. Ein solcher Autismus könne auch das Überleben der EU gefährden, die auf „solide öffentliche Unterstützung für europäische Politik auf der Grundlage von Konzepten nationaler Identität, Souveränität und Politik“ angewiesen sei. Ein sehr aktueller Verweis angesichts ihrer seit einigen Jahren und auch aktuell sichtbaren Fehlentwicklungen („Mehr Europa“ als Patentrezept).
Vergleicht man das neue Konzept aus den Reihen der SWP mit dem von ihr vor einigen Jahren etablierten Konzept der strategischen Kultur, das längst von Emmanuel Macron in die politische Strategie Frankreichs übernommen wurde, kommt man um den Eindruck nicht herum, dieser so kreative Berliner think tank habe die Begriffe „strategische Kultur“ eigens für Frankreich und „politischen Autismus“ eigens für Deutschland entwickelt. Daß auf das Signal von der Sorbonne kein Echo aus Berlin kam, überrascht so nicht. Und für die Zukunft ist zu erwarten, daß die Coronakrise die Karten auch in Europa neu mischt. Fragt sich nur in welche Richtung: Der Brexit ist noch nicht in trockenen Tüchern, und schon werden angesichts der damit verbundenen Veränderung der Mehrheiten schon wieder die Versuche erneuert, die EU endgültig in Richtung Transferunion umzubauen. Schlechte Zeiten für autistische Außenpolitik!