Isabella
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Mir selbst ging es ständig so, wie azrael es zu Anfang geschildert hat. Als bei Arztbesuchen meine Mutter nicht mehr dabei war, habe ich meinen Aufruf immer überhört, aber nicht willentlich mich auch plötzlich nicht mehr getraut, aufzustehen und in ein Zimmer hinein zu gehen, wo ich doch nicht wußte, wo dieses Zimmer 1 oder 6 sein sollte. Davon abgesehen war ich mittlerweile in eine Art Starre verfallen, die es mir unmöglich machte, zu reagieren. Ausserdem wollte ich wegen meines komplizierten Namens nicht,daß alle Leute wissen, daß ich das bin, wenn ich aufstehe. Manchmal habe ich es geschafft, nach Stunden Wartezeit nachzufragen, weil ich die letzte im Wartezimmer war. Wenn ich dann ad hoc in ein Zimmer zu einem Arzt geleitet wurde, kam ich mir immer dann richtig "deppert" vor, weil ich mich so angestellt und auch keinen Sinn mehr in meinem Arztbesuch gesehen habe. Im Laufe der Zeit wurde ich immer seltener krank, eigentlich garnicht mehr. Bronchitis und kleinere Infekte kuriere ich mit Dampfbädern und Enthaltsamkeit selber aus. Bis auf Schwangerschaft und Geburt meines Sohnes war ich seit ca. dem 20. Lebensjahr nicht mehr beim Arzt. Beim Zahnarzt bin ich hin- und wieder mal zur Untersuchung, mit der Verabschiedung: "Wir sehen uns in einem halben Jahr wieder."
Mein Sohn Thaddäus:
Der Kinderarzt hat selbst einen Sohn, der mit 2 Jahren noch nicht gesprochen hatte. Deshalb hat er immer gesagt: Alles bestens, der Rest wird schon noch ... ." Als dann die Diagnose kam, sagte er: "Na und?" und schob Thaddäus noch ein Gummibärchen in den Mund. Hatte er das registriert? Weiß er, was Autismus ist? Bei den nächsten Arztbesuchen redete er mit Thaddäus ganz normal, bekam keine Antwort oder kaum eine Reaktion. Ich habe ihn dann immer auf Thaddäus sein Anders sein aufmerksam gemacht; er:"Ja,ja, ich weiß" - Wenn ich ihm sage, daß ich mit Thaddäus gerne Reitunterricht machen möchte, so verschreibt er mir das als Rezept. Es geht aber immer nur ein was, entweder Krankengymnastik oder Reittherapie,oder ... etc. .
Wenn unser Kinderarzt Urlaub macht und eine Vertretung da ist, geht es immer schief. Thaddäus spürt förmlich die Unsicherheit der Vertretung, wälzt sich auf dem Boden, rennt unentwegt durch die Praxis: "Tatütatta, ich bin der Notarztwagen! Bitte anschnallen, da kommt auch schon der Sauerstoff und jetzt schneide ich dir mit dem Skalpell den Kopf ab, dann spritzt das Blut, kommt Blutfleisch ... ." - So reagiert er bei seinem Kinderarzt nie! Nur wenn eine Vertretung da ist, führt er sich so auf. Diese weiss dann meistens nicht über ihn Bescheid; hat nicht in den Unterlagen nachgeschaut und ich stehe dann immer im Erklärungsnotstand. Wenn ich dann aber anfange zu erklären und überhaupt, wenn ich über Thaddäus erzähle, bzw. Fragen zu ihm beantworte, dann stört ihn das gewaltig und teilt auf seine Art mit, das jetzt endlich zu unterbinden. Wenn ich einem Arzt/ einer Ärztin versucht habe klar zu machen, daß so eine Unterhaltung im Beisein von Thaddäus nicht möglich ist, da er das sehr wohl registriert und das nicht möchte, wurde bislang nie darauf eingegangen. Besonders schlimm war es im SPZ - noch vor der Diagnose - die haben dort vorrangig mit Kindern aus sozial schwachen Haushalten zu tun. Also wurden auch wir so behandelt: "Haben sie mit ihrem Kind schon einmal ein Buch angeschaut?" Wir waren schier fassungslos, sind doch unsere Wände zu Hause komplett mit Bücherregalen bestückt und dreht sich der Alltag stets ums Lesen,Vorlesen und Reflektieren. Wir waren regelmäßig im SPZ bei so einem Psychologen, einem, bei dem Thaddäus Fuß gefasst hat und sich sogar schon auf den nächsten Besuch gefreut hat. Einmal wollte Thaddäus unbedingt mit einem bestimmten Spiel spielen und ich sagte ihm, daß er den Herrn x fragen solle, dann dürfe er das bestimmt. Herr x wußte zu diesem Zeitpunkt von der Diagnose und wußte auch, daß Thaddäus eigentlich nicht spricht, geschweige denn, daß er an ihn gerichtete Wünsche äußern würde. Nun stellt sich der kleine Thaddäus mit seinen fast 3 Jahren vor ihn hin und stellt laut hörbar diese eine alles bedeutende, wichtige Frage, und dieser selbstsüchtige, sich selbst gern redend hörende Psychologe x, fest angestellt,kriegt das nicht mit, oder will garnicht darauf eingehen. Thaddäus hat mit seinem dünnen Stimmchen sogar mehrmals gefragt, wurde dabei immer lauter, um Aufmerksamkeit zu erhaschen. In seinem Redefluß unterbrochen, hat Psychologe x Thaddäus zum Stillschweigen und artig sein ermahnt.
Ich war so fassungslos, mir schossen die Tränen in die Augen, ich habe Thaddäus geschnappt, ihn unendlich viel gelobt für seinen Mut zum Fragen stellen und ihn dafür belohnt, indem wir noch am selben Tag das begehrte Spiel gekauft haben. Herrn Psychologen x haben wir seitdem nie wieder gesehen. Aber es wäre so wichtig für Thaddäus gewesen, daß gerade derjenige, zu dem er Vertrauen aufgebaut hat, daß dieser angemessen reagiert, wenn Thaddäus zum ersten Mal in seinem Leben eine Frage artikuliert, eine Frage, zu der er sich überwinden mußte, die mit viel Vorarbeit verbunden war und außerdem hat er von Mama die Gewissheit bekommen, daß es funktionieren würde. Aber das trat nicht ein. Die für Kleinkinder übliche "Warum?"- Phase hat Thaddäus nie gehabt. Er hangelt sich mit Konjunktivsätzen durch ("Ich würde mich freuen, wenn ... ." Könnte es sein, daß ... ?").
Als wir zu einem einwöchigen Klinikaufenthalt in der Kinderklinik zwecks Untersuchung auf Hyperkinese waren, klebten die Ärtzte förmlich an Thaddäus. Einerseits im MRT nichts nachweisen zu können, ihn aber andererseits in der Turnhalle stundenlang analysieren zu wollen, hat bei mir doch den Eindruck erweckt, daß die Ärzte überhaupt kein Konzept dazu haben, was sie eigentlich herausfinden wollen. So nach dem Überraschungsprinzip: das und das ereignet sich, also schauen wir mal nach, was dazu passt. Es passte aber nichts. Als ich dann dann sagte, daß seitens der Uni- Klinik Köln Autismus vermutet wird - zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Diagnose - haben alle Ärzte rebelliert: Ich solle doch mal abwarten, dürfte doch meinem Kind nicht so eine große Last aufbürden und außerdem würden doch Autisten nicht sprechen, und ich solle nicht selber Arzt spielen wollen und mich mehr mit meinem Kind beschäftigen.
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