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Ein Interview mit Joaquin Phoenix zu führen, kommt einem Roulette-Spiel gleich. Man entscheidet sich für Fragen, schlägt einen bestimmten Ton an, und setzt damit alles auf eine Farbe. Ob damit ein Gespräch gelingt, hängt allein vom Glück ab, oder, in diesem Fall, von der Tagesform des Schauspielers. Phoenix, der inzwischen 40 Jahre alt ist, gilt als überaus launischer Gesprächspartner, der bei Interviews gerne einmal ausfallend wird oder spontan den Raum verlässt. An diesem Frühjahrsabend in einem Pariser Hotelzimmer macht der Kalifornier einen offenen, beinahe ausgelassenen Eindruck. Er trägt schwere Stiefel, Jeans und ein weißes T-Shirt. Wie Phoenix breitbeinig im Ledersessel sitzt, das pechschwarze Haar zur Tolle gekämmt, erinnert die rebellenhafte Pose an seine bisher vielleicht wichtigste Filmrolle – als junger Johnny Cash.
Mr Phoenix, Regisseure und Schauspielkollegen, die regelmäßig mit Ihnen arbeiten, bezeichnen Sie als Autisten. Können Sie mit dieser Beschreibung etwas anfangen?
Ich würde nicht widersprechen. Aber diese Beschreibung trifft vor allem auf mich als Privatmensch zu.
Warum diese Unterscheidung?
Als Darsteller am Set fallen meine Macken eigentlich seltener auf. Da bewege ich mich in einem relativ festen Korsett und kann mich einigermaßen normal fühlen. Wenn ich aber nicht arbeite und zuhause bin, ist es häufig, als würde ich Scheuklappen aufsetzen und links und rechts nichts mehr von mir wahrnehmen. Jedenfalls behaupten das Freunde von mir. Die meisten sagen, ich sei überhaupt nicht gesellschaftsfähig.
Was bedeutet das konkret?
Unterhaltungen bereiten mir ein unangenehmes Gefühl.
Auch in diesem Moment?
Nein, gerade geht es. Aber das mit dem Gefühl ist nur das eine. Häufig bekomme ich bestimmte Äußerungen oder Gefühlsausdrücke anderer gar nicht mit.
Ein unglaublicher Nachteil für einen Schauspieler.
Vielleicht. Dafür fällt es mir aber auch leichter, in meine Welt und in meine Rolle abzutauchen. Das könnte ein Vorteil sein.
Sie sind also kein guter Gesprächspartner auf Partys?
Oh Gott, nein. Ich bin der Typ, um den alle einen großen Bogen machen, weil sie sehr schnell merken, dass ich mich unwohl fühle und wie ein schüchterner Junge auf mein Smartphone starre. Ich fürchte, man sieht mir in solchen Momenten an, dass mir schon ein Händeschütteln physische Schmerzen bereiten würde.
Haben Sie eine Ahnung, woher das kommt?
Meine Geschwister sind ganz anders geraten als ich, viel zugänglicher. Meine Mutter behauptet, ich hätte schon als Kind offensichtliche Probleme gehabt, auf andere Menschen zuzugehen, selbst wenn ich sie gut kannte. Vielleicht lässt sich das gar nicht erklären, jedenfalls nicht durch eine falsche Erziehung oder so. Meine Eltern sind jedenfalls nicht schuld.
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Haben Sie manchmal Versagensängste?
Ständig. Das geht schon los, sobald ich die Zusage für eine Rolle habe.
Was passiert dann?
Häufig übergebe ich mich. Manchmal, wenn es ganz schlecht läuft, passiert das sogar noch am Set. Zum Glück arbeite ich meistens mit den gleichen Leuten, es schockiert also niemanden mehr.
Sie müssten nach all den Jahren eigentlich ein abgeklärter Typ sein. Können Sie sich Ihre Nervosität oder Anspannung erklären?
Ich denke, es liegt daran, dass ich hohe Erwartungen habe und niemanden enttäuschen will. Am wenigsten mich selbst und die Leute, die mich für ihren Film besetzen.
Der Regisseur Paul Thomas Anderson sagte kürzlich, dass er noch nie einen textsichereren Darsteller erlebt habe als Sie.
Kann schon sein, dass das stimmt. Vielleicht hat auch das mit meiner autistischen Seite zu tun. Das Komische ist, dass ich am Set jedes Wort und jede Silbe kenne und schon ein paar Tage später fast alles wieder vergesse. Das ist jedes Mal wie früher bei einem Test in der Schule. Ich lerne den Stoff, um ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt abrufen zu können. Danach ist wieder alles komplett weg. Ich bewundere Kollegen, die in Interviews zu ihren Filmen über den Kontext des Drehbuchs oder Romanvorlagen dozieren können, weil sie sich zur Vorbereitung in jedes Detail eingelesen haben. Das versuche ich zwar auch, aber behalten kann ich nichts davon.