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Thema: Missbrauch des Begriffes "Autismus" (http://autismus-ra.unen.de/topic.php?id=126)


Geschrieben von: Lisa M. am: 19.07.06, 20:30:47
Ja, dann muss man sich ja nicht damit auseinandersetzen, was man da objektiv von sich gegeben hat, sondern kann ein "Beleidigtsein" als subjektive Betroffenheit von Betroffenen konstatieren, das man zwar ganz unverständlich findet, aber dennoch tut es einem Leid. Vielleicht gar ein wenig Mitgefühl mit den Armen, die sich beleidigt fühlen, und eine Erklärung dazu, dass man es nicht so gemeint habe, als seien die zu blöd, das selbst zu wissen?

Auf der anderen Seite sollte man den Punkt, dass es nicht als Diskriminierung gemeint war, nicht aus dem Blick verlieren. Ich erinnere mich an eine Geschichte, als ein paar Leute aus der linksalternativen Szene, die das Gefühl hatten, weder über ihre politischen Ziele noch über die Wege dahin ausreichend noch orientiert zu sein, in einem Anfall von Selbstironie als "Aktionsfront blinder Aktionismus" auf der nächsten Demo aufzutauchten und dann noch mit farbvertauschten Blindenbinden. Ich hab von der Geschichte nur gehört, aber sie kriegten aus den eigenen Reihen daraufhin ein so böses "Tribunal" wegen Diskriminierung Behinderter, dass der eine, dem es wohl durch den Sinnverlust eh schon recht schlecht ging, anschließend für längere Zeit in der Psychiatrie landete.

Aus solchen Erfahrungen raus meine ich, dass man die Leute schon darauf aufmerksam machen sollte, was sie falsch machen, aber unter Anerkennung der Tatsache, dass es keine böse Absicht ist und mit ein wenig Milde. Das wünschen wir uns ja auch, wenn wir in Fettnäpfe treten.


Geschrieben von: uppsdaneben am: 20.07.06, 08:01:33
Zitat von Tuxine:
Diese Art der Reaktion ist typisch für Politiker. Immer, wenn sie darauf hingewiesen werden, dass sie Vorurteile allgemein zementieren, reagieren sie, als ob es sich um eine persönliche Beleidigung gehandelt hätte. Das ist wohl irgendwie "billiger".


Es ist nicht mal sicher, ob er die Beschwerden gelesen hat oder die Antwort kennt. Abgeordnete haben ein bis zwei Assistenten, die sich um solche Dinge kümmern. Inhaltsleeres Beschwichtigen gehört zu ihren Standardaufgaben.


Geschrieben von: Wursthans am: 20.07.06, 08:16:44
Du meinst diese Assistenten würden als "ich" von ihrem Vorgesetzten schreiben?


Geschrieben von: drvaust am: 20.07.06, 10:51:38
Es ist Mode, möglichst viele Fremdwörter zu verwenden, um zu zeigen, ich kenne auch Fachbegriffe und Fremdsprachen. Leider kennen die Leute diese Begriffe oft nicht. Da wird manchmal so etwas ähnliches wie Englisch benutzt, das Engländer nicht kennen. Fachleute sollten populäre Artikel zu ihrem Fachgebiet nicht lesen, damit es ihnen nicht schlecht wird.
Aber politisch korrekt muß es sein, das Wort Neger oder Zigeuner kann Politiker die Karriere kosten.
Was Autismus ist, wissen nur wenige, den Begriff kann jeder benutzen. Da gibt es keine politische Entrüstung.


Zitat von _OO_:
Du meinst diese Assistenten würden als "ich" von ihrem Vorgesetzten schreiben?
Das wird oft so gemacht. Ich habe mal erlebt, daß sich ein Politiker für eine Rede in der Ich-Form entschuldigte, mit der Begründung, er hatte sie vorher nicht gelesen. Deutlicher ist das mit Schreiben, die in der Ich-Form geschrieben, aber im Auftrag unterschrieben sind.


Geschrieben von: Wursthans am: 21.07.06, 17:13:39
Zu der Parodie mit der Sehbehindertenbinde wäre vielleicht noch zu sagen, daß dort wohl eher kein verkehrtes Bild von Sehbehinderten transportiert wurde. Natürlich darf man Witze über Behinderte machen, warum auch nicht. Was mich in diesem Fall gestört hatte war, daß der Eindruck erweckt wurde Autisten seien nicht fähig auf andere zu hören oder sich mit anderen zu beratschlagen.


Geschrieben von: Lisa M. am: 21.07.06, 21:27:12
Zitat:
Zu der Parodie mit der Sehbehindertenbinde wäre vielleicht noch zu sagen, daß dort wohl eher kein verkehrtes Bild von Sehbehinderten transportiert wurde.


Stimmt, das ist ein großer Unterschied.

Zitat:
Natürlich darf man Witze über Behinderte machen, warum auch nicht.


Das finde ich im allgemeinen wirklich eher daneben. Nur dass diese Parodie damals von niemandem, der noch ein bisschen unbekümmert denken kann, als ein Witz über Behinderte verstanden werden konnte. Sie transportiert einfach keine Aussage über Blinde, das ist der zentrale Unterschied.


Geschrieben von: Wursthans am: 21.07.06, 21:50:34
Wenn jemand Witze über Behinderte machen will so wie Witze über Leute mit langen Nasen sehe ich keinen generellen Unterschied. Behinderte sind ganz normale Menschen, also warum sollten sie anders behandelt werden. Eine andere Frage ist wohl welches Niveau im allgemeinen bestimmte Personen pflegen. Hier handelte es sich jedoch nicht um einen Witz über Behinderte, sondern um die Kultivierung eines Zerrbildes das für Autisten im Alltag oft Probleme mit sich bringt. Es ist ja für manche schon schwer genug Kontakt aufzunehmen, wenn dann noch selbsternannte Experten jemandem rundweg die Fähigkeit absprechen, daß man sachlich kommunizieren kann und zu kritischer Auseinandersetzung fähig ist verkompliziert da die Sache in völlig unnötiger Weise wie ich finde. Und damit haben wohl die meisten von uns hier schon Erfahrungen gemacht, was falsche Einstellungen bei Mitmenschen für verschiedene Folgen nach sich ziehen können.


Geschrieben von: Lisa M. am: 21.07.06, 22:11:10
Ich finde es auch blöd, Witze über Leute mit langen Nasen zu machen, über Blondinen oder über Ostfriesen. Das ist ganz typisch die Sorte Witze, bei denen ich im allgemeinen weiß, dass das wohl ein Witz sein soll, aber nichts Lustiges dran finden kann, weil ich mit meiner "unpassenden" Ernsthaftigkeit da nur die Äußerung von blöden Vorurteilen aufgrund angeborener Merkmale höre. Ein paar Ausnahmen gibt es da aber wohl, wie z.B. der über die Ostfriesen, die Watt als Bauland verkaufen... Weiß nicht mehr, wie der war, aber er brachte mich zumindest zum Grinsen!

Zitat:
Es ist ja für manche schon schwer genug Kontakt aufzunehmen, wenn dann noch selbsternannte Experten jemandem rundweg die Fähigkeit absprechen, daß man sachlich kommunizieren kann und zu kritischer Auseinandersetzung fähig ist verkompliziert da die Sache in völlig unnötiger Weise wie ich finde.


Yep, hast du voll Recht!


Geschrieben von: Wursthans am: 21.07.06, 22:21:54
Witze haben die Funktion Spannungen abzubauen. Von daher sehe ich in solchen Witzen einen Sinn. Es kann ja nicht jeder philosphische Essays auswerfen. Im übrigen wäre es kaum etwas anderes sich abfällig über Personen zu äußern die sich auf diesen Niveaus bewegen, auch ihr Sein hat seinen Grund und ist so wie es ist. freuen

Aber darum geht es hier ja nicht.


Geschrieben von: Lisa M. am: 21.07.06, 22:34:03
Zitat:
Im übrigen wäre es kaum etwas anderes sich abfällig über Personen zu äußern die sich auf diesen Niveaus bewegen, auch ihr Sein hat seinen Grund und ist so wie es ist.


Wow! Ein ganzes philosophisches Essay - und noch dazu ein gutes! - in nur einem Satz! lachen


Geschrieben von: 55555 am: 24.07.06, 10:46:27
Zitat:

Deutscher Bundestag

13. Wahlperiode

13/9706

20.01.1998

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), ... und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entwurf eines Gesetzes zum Schutz vor Diskriminierung und zur Stärkung von Minderheitenrechten
(Antidiskriminierungs- und Minderheitenrechtsgesetz)

A. Problem

In der Bundesrepublik Deutschland werden Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Gruppen im täglichen Leben häufiger mit Diskriminierungen konfrontiert als andere. Besonders betroffen sind hierbei drei Gruppen: erstens Menschen mit einer tatsächlich oder vermeintlich anderen ethnischen Abstammung, Herkunft oder Zugehörigkeit als die Mehrzahl der Deutschen, wie zum Beispiel Einwanderinnen und Einwanderer, zweitens Schwule und Lesben sowie drittens behinderte Menschen.

Nicht zuletzt im Privatrechtsverkehr sind Ungleichbehandlungen in Form von Benachteiligungen und Herabsetzungen an der Tagesordnung. Hervorzuheben ist hierbei der Bereich des Arbeitsrechts sowie der Bereich der alltäglichen Rechtsgeschäfte. In der Arbeitswelt werden Migrantinnen und Migranten bei der Arbeitsplatzsuche regelmäßig und in erheblichem Maße diskriminiert. Auch im alltäglichen Rechtsverkehr, etwa bei der Anmietung einer Wohnung, bei der Bewirtung in Gaststätten oder bei dem Abschluß von Kfz-Versicherungen, sind häufig Benachteiligungen oder Ausschließungen zu verzeichnen.

Obwohl diese Diskriminierungen eine erhebliche gesellschaftliche Relevanz haben und der Gesetzgeber bereits mehrfach von der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen zu einer Verstärkung des Schutzes vor Diskriminierung aufgefordert wurde, haben weder der Gesetzgeber noch die Rechtsprechung angemessen auf dieses Problem reagiert. Insbesondere dem Gesetzgeber ist hierbei eine erhebliche Versäumnis vorzuwerfen, zumal die Bundesrepublik aufgrund des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung völkerrechtlich verpflichtet ist, wirksame Schutzvorkehrungen vor Diskriminierungen zu schaffen.

Der bestehende gesetzliche Schutz vor Diskriminierungen ist lückenhaft und unzureichend. Im Privatrecht gibt es (abgesehen von §§ 611a, b BGB sowie § 75 BetrVG, die nur enge Teilbereiche abdecken) überhaupt keine speziellen Regelungen. Da die Grundrechte im Privatrechtsverkehr grundsätzlich nur mittelbar zur Anwendung kommen und viele Problemlagen von den privatrechtlichen Generalklauseln nicht erfaßt werden, bietet auch das Diskriminierungsverbot des Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz keinen ausreichenden Schutz vor Diskriminierungen.

...

Gesetz zum Schutz von Minderheiten vor ungerechtfertigter Benachteiligung
(Antidiskriminierungsgesetz, ADG)

§ 1
Diskriminierungsverbot

(1) Jede Person hat Anspruch auf Gleichbehandlung im Rechtsverkehr. Niemand darf insbesondere wegen seiner tatsächlichen oder vermeintlichen

1. ethnischen Abstammung, Herkunft oder Zugehörigkeit, Hautfarbe, Nationalität, religiösen Anschauungen oder
2. sexuellen Identität oder
3. Behinderung

diskriminiert werden. Eine Behinderung liegt dann vor, wenn eine Person auf Grund einer Minderung körperlicher Funktionen, geistiger Fähigkeiten oder seelischer Gesundheit nicht nur vorübergehend die jeweils üblichen Anforderungen der natürlichen und sozialen Umwelt nicht oder nicht vollständig erfüllen kann und dadurch ihr Leben in der Gesellschaft erschwert oder eingeschränkt ist. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mindestens 6 Monaten.

(2) Diskriminierung im Sinne dieses Gesetzes ist jede nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung.

...

Zu Artikel 4:

In der Praxis bleiben Strafanzeigen wegen diskriminierender Beleidigungen, Bedrohungen, Körperverletzungen oder Sachbeschädigungen zumeist erfolglos, weil die Staatsanwaltschaften die Verletzten unterschiedslos auf den Privatklageweg zu verweisen pflegen. Die Vorschrift legt insoweit eine Rückausnahme fest und stellt klar, dass die Verfolgung dieser Delikte, soweit sie einen diskriminierenden Hintergrund haben, stets im öffentlichen Interesse liegt.

Unbeschadet davon besteht bei den Meinungsäußerungsdelikten wie Beleidigung genereller Reformbedarf. Es ist zu prüfen, ob sie nicht außerhalb des Strafrechts wirkungsvoller und für die Betroffenen vorteilhafter mit zivilrechtlichen Schadensersatzverfahren geahndet werden können

Quelle

Ich will damit nicht behaupten, daß dieses Gesetz die Äußerung von Herrn Wagner sanktioniert. Ebenfalls finde ich es sinnvoll sich vor Gebrauch eventuell zur Verfügung stehender juristischer Keulen um Vermittlung von Verständnis des Problems zu bemühen.

In diesem Fall verstößt Herr Wagner nicht klar gegen Gesetzesentwürfe seiner Partei, jedoch allemal gegen ihren Geist wie ich finde. Daher finde ich die ausweichende Antwort doch sehr schade.

In seinem Brief hat er seine Klischeevorstellung noch weiter bekräftigt:

Zitat:
Mit der zugespitzten Formulierung "autistischer Führungsstil" wollte ich symbolisch verdeutlichen, dass die Ministerin Argumenten von außen nicht mehr zugänglich ist, die Wirklichkeit an den Schulen nicht wahrnimmt und einsame Entscheidungen trifft.


Das bedeutet, daß er nicht nur nicht erfasst hat worum es in meinem Brief an ihn ging, sondern, daß er weiterhin an seinem Bild festhält, daß es autistisch sei von außen nicht zugänglich zu sein und einsame Entscheidungen zu treffen.

Darum lade ich euch ein mal hier in euren Worten aufzuschreiben was daran für euch persönlich falsch ist. Dann können wir ihm diese Stimmen ja nochmal zuschicken in der Hoffnung, daß er die Botschaft diesmal versteht. Vielleicht sollte man das dann gleich nochmal an die Bundespartei schicken, damit die das mal thematisieren und in Zukunft solche Aussagen möglichst unterbinden.

[Edit: Hier noch ein grundlegender Text zum Thema der Diskriminierung]


Geschrieben von: bellaria am: 24.07.06, 14:01:16
Ich verstehe und teile Eure Verärgerung über die polemische (und inhaltlich falsche) Verwendung des Begriffes "autistisch" in o.a. Zusammenhang.

Was mir in Diskussionen wie diesen allerdings auch als unfair aufstößt:

Viele Aspies halten sich selbst für ziemlich toll - manche halten sich für eine neue Rasse, eine neue Evolutionsstufe oder sowas wie Übermenschen. Das sei ihnen unbenommen und unterliegt dem Recht auf persönliche Freiheit. Viele weisen es streng von sich, dass Autismus eine Behinderung darstellt, weil es nur "eine andere Art zu Sein" darstellt. Aber wenn es um finanzielle Erleichterungen durch einen amtlichen Behindertenstatus geht oder auch darum, "Diskriminierung" zu schreien, berufen sie sich eben doch darauf, Behinderte zu sein.

Ich behaupte nicht, dass das die hier Anwesenden betrifft - ich frage mich nur, wie Ihr mit diesem Widerspruch (denn das ist es für mich) umgeht?