Erstaunlich sinnvoll für die Quelle und eigentlich auch über diesen Thread hinaus lesenswert:
Zitat:
Misophonie – im Deutschen auch manchmal Selektive Geräuschintoleranz – bezeichnet einen Zustand, in dem Menschen durch bestimmte Alltagsgeräusche wütend werden oder sich davon stark gestört fühlen. Beispiele sind Essgeräusche, Gähnen oder Räuspern. Dabei handelt es sich um keine offiziell anerkannte psychische (oder neurologische) Störung. Dass es Leute mit diesen Problemen gibt, ist in der Forschung nicht umstritten. Wohl aber, was die Ursache dafür ist.
[...]
Im Folgenden soll es nicht darum gehen, das Leiden der Betroffenen zu relativieren. Vielmehr soll eine Analyse der Aussagen der Hirnforscher ein besseres Verständnis dafür liefern, wie Wissenschaftler über psychische Störungen kommunizieren und damit eine eigene Realität kreieren. Hierbei handelt es sich mitnichten um einen Einzelfall. Ich danke einem Leser, der mich auf diese Studie aufmerksam machte.
Für die Untersuchung unterschieden die Hirnforscher drei verschiedene Arten von Stimuli: Auslösergeräusche (wie Geräusche des Essens, Atmens oder Trinkens), unangenehme Geräusche (etwa ein schreiendes Baby oder eine schreiende Person) und neutrale Geräusche (so wie Regen oder ein lebhaftes Café). Neben den 20 Betroffenen wurden auch 22 Kontrollpersonen untersucht.
Wie zu erwarten, fanden die Betroffenen die Auslösergeräusche furchtbar. Dies äußerte sich nicht nur in Befragungen, sondern auch in einer gesteigerten Herzfrequenz und Hautleitfähigkeit. Dies sind klassische Merkmale einer Angst- oder Stressreaktion. Bei den Kontrollpersonen oder den unangenehmen Geräuschen kam es zu keiner solchen Reaktion.
Tautologische Forschung
Interessant war jetzt der Blick aufs Gehirn: Die Forscher untersuchten die Reaktion der Probanden auf die Stimuli nämlich im Kernspintomografen. Die Auslösergeräusche korrelierten dabei mit stärkeren Aktivierungen der Betroffenen in den Insulae (Inselrinden) links und rechts. Dieser Gehirnbereich wird allgemein mit negativen Emotionen wie Angst oder Ekel in Zusammenhang gebracht.
Dabei werfen einige der Aussagen, die die Neurowissenschaftler über ihre Funde tätigen, sprachliche Probleme auf. Beispielsweise schreiben sie:
"… Jetzt, da wir die vordere Inselrinde als Schlüsselregion identifiziert haben, die die Auslösergeräusche in den misophonischen Patienten unterscheidet …"
(Übers. d. A.)
Hier wird eine Gehirnregion zum Akteur gemacht. Es sind nicht mehr die Betroffenen oder die Versuchsleiter, die die Geräusche in unterschiedliche Kategorien einteilen. Es sind auch nicht die Auslösergeräusche, die die Gehirnaktivität verursachen. Nein, plötzlich unterscheidet das Gehirn, welche Stimuli die problematischen sind und welche nicht.
Ich würde dieses Beispiel, das hier relativ harmlos sein mag, nicht so betonen, käme es nicht ständig vor. Es passiert in den Lebenswissenschaften so oft, dass die theoretischen Voraussetzungen einer Untersuchung plötzlich als deren Ergebnis aufgetischt werden.
Ein klassisches Beispiel sind Untersuchungen zur Vorhersage kriminellen Verhaltens oder von Erkrankungen. Diese beginnen in aller Regel mit der Unterscheidung von Personen in Problem- und Kontrollgruppen. Dann findet man einen Faktor, der bei beiden Gruppen im Mittelwert unterschiedlich ist. Das kann, wie hier, eine Gehirnreaktion sein, aber auch schlicht das Ergebnis eines Fragebogens oder eines Verhaltenstests.
Im letzten Schritt wird dann behauptet, der gefundene Faktor könne die Gruppen unterscheiden und womöglich gar Kriminalverhalten oder Erkrankungen vorhersagen. Tatsächlich hat man es dann aber mit einer Tautologie zu tun: Nur unter der Voraussetzung nämlich, dass man die Gruppen bereits theoretisch unterschieden hat, kann man sie schließlich mit Hilfe des im Versuch gefundenen Faktors unterscheiden.
Das wirft die Frage auf, wofür man den Faktor überhaupt braucht, wo die Unterscheidung doch schon vorgenommen ist. Es könnte sein, dass dieser bessere Unterscheidungen erlaubt. Das wäre dann ein pragmatischer Grund dafür, das alte Kriterium durch das neue zu ersetzen.
Symptome aufschlussreicher als Gehirn
Das ist bei solchen neurowissenschaftlichen Untersuchungen (und auch bei anderen physiologischen oder Verhaltensstudien) jedoch unwahrscheinlich: Die Korrelationen sind freilich nie perfekt. Nicht bei allen Personen der Zielgruppe findet sich der Faktor, und umgekehrt haben manche aus der Kontrollgruppe ihn vielleicht auch.
[...]
Was normal und abnormal ist, verrät uns mitnichten die Natur. Es ist wiederum eine Folge der theoretischen Unterteilung der Versuchspersonen in beide Gruppen; es liegt im Auge des Betrachters.
In einer anderen Welt würden Menschen es vielleicht als abnormal ansehen, wenn jemand sich nicht von Auslösergeräuschen gestört fühlt. Dann wäre die höhere Inselaktivierung normal, die niedrigere abnormal. Sie kennen sicher dieses Gedankenexperiment: Wer wäre der Gesunde in einer Welt von Blinden?
[...]
Was solche Forschung bringt, ist mir ein Rätsel. Allein die Messzeiten dürften in diesem Fall rund 50 000 Euro gekostet haben. Dabei wird die Kernspintomografie auf Grund knapper Heliumressourcen immer teurer, Geräte-, Gebäude- und Personalkosten noch gar nicht mitgerechnet.
Wie wir an diesem Beispiel gesehen haben, arbeiten die Forscher mit vielen sprachlichen Ungenauigkeiten, die ihre Funde jeweils in einem besseren Licht dastehen lassen. Menschengemachte Unterscheidungen – wie normal/abnormal, gestört/nicht gestört, misophonisch/nicht misophonisch – als naturgegeben dastehen zu lassen, ist zudem grundfalsch und vermischt den Bereich von Normen und Werten mit dem der Naturwissenschaften.
Seit 2010 mehrt sich die Kritik an der bildgebenden Hirnforschung, insbesondere an Experimenten mit der Kernspintomografie. Studien wie diese, die vor allem Tautologien und Banalitäten produzieren, in führenden Zeitschriften mit weit reichenden Versprechungen zu verkleiden, dürfte wohl keine vertrauensbildende Maßnahme sein.