Scardanelli
|
Liebe Mitmenschen,
in den letzten Tagen habe ich mich bei mehreren Asperger-Foren angemeldet. Ich bin ein diagnostizierter Aspie und finde allerdings die Diskussion über "Aspies" und "Verdachtsaspies" ein bisschen befremdlich - nehmt es mir bitte nicht übel, wenn ich anmerke, dass ich dieses "demokratisch legitimierte" Forum eher etwas bürokratisch finde. Natürlich ist es für Aspies wichtig, sich in einem geschlossenen Bereich untereinander verständigen zu können, ohne von Zaungästen irritiert zu werden - aber ob die Unterscheidung von "offiziellen" Aspies und "Verdachtsaspies" hier hilfreich ist, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht kann ich zu der Frage, was eine Diagnose für die betroffene Person bedeutet und wie sie sich auswirkt, etwas Relevantes beisteuern, indem ich euch - zugleich als eine Art Vorstellungsbeitrag - kurz die ungewöhnliche Geschichte meiner Diagnose schildere.
Ich bin gerade 41 Jahre alt geworden. Ich gehöre also unter euch sicher zu den biologisch Älteren. Ich bin aufgewachsen in einer Zeit, als das Thema Asperger-Syndrom noch unbekannt war. Ich habe vor etwa zwei Jahren erstmals davon gehört. Das hat in der Tat mein Leben verändert. Sicher bin ich ein Sonderfall: Die psychiatrische Diagnose war bei mir eine ganz kurze formelle Angelegenheit, weil die Autismus-Spezialistin, die ich aufsuchte, anhand meiner sehr exakten und aussagekräftigen Selbstdarstellung (mit präzisen Kindheitserinnerungen bis ins dritte Lebensjahr) mich sofort eindeutig und zweifelsfrei als Aspie identifizierte. Sie hat also im Grunde nur die Selbstdiagnose bestätigt, zu der ich im Laufe einer etwa einjährigen intensiven Beschäftigung mit der Thematik gelangt war. Das ist bedeutsam insofern, als das ärztliche Gutachten mir im Umgang mit Behörden usw. einen gewissen Schutz gewährt, einfach, weil es von einer Autoritätsperson stammt. Dafür spielt es eine Rolle. Dass es für meine Kommunikation mit euch Mit-Aspies und Interessierten eine Rolle spielen sollte, wundert mich ein wenig und leuchtet mir nicht ganz ein.
Als Kind zeigte ich allerhand Auffälligkeiten, die heute als geradezu lehrbuchhaft aspergisch gelten: so zum Beispiel im Alter von drei Jahren ein obsessives Interesse für Maschinen, wo sich etwas dreht. Damals aber, um 1970, wusste niemand, was das bedeutet. Ich war ein "kleiner Professor", der mit drei Jahren lesen und schreiben konnte, mit fünf die lateinischen Namen sämtlicher heimischen Bäume kannte usw. Ich hatte gewisse Stereotypien und Ticks, die aber nicht allzu sehr auffielen (ich konnte sie wohl immer ziemlich geschickt verstecken). Ich war körperlich steif und ungeschickt, dafür sprach ich "wie gedruckt". Ich hatte große Probleme im Sozialverhalten, konnte mich nie in Gruppen einfügen. Ich litt sehr darunter, dass meine Eltern mir dauernd vorwarfen, ich sei kalt und gefühllos - das ganze Elternhaus zeichnete sich wahrlich nicht durch Wärme aus, und ich wunderte mich, wieso ausgerechnet ich der Böse sein sollte. Gleichzeitig wurde daran Anstoß genommen, dass ich leicht weinte ... Ich war ein Einser-Schüler und zugleich ein Einzelgänger und Sonderling, der manchen Anlass zur Sorge bot. Ich wurde nie zu einem Psychologen geschickt, weil meine Eltern davon nichts hielten: Meine katholisch-konservative Mutter war der Meinung, Psychologie sei etwas Unanständiges, mein Vater war deutlich liberaler eingestellt, hatte aber selbst tendenziell autistische Charakterzüge, die sich seinen Kindern gegenüber in einer gewissen Gleichgültigkeit niederschlugen. Es gab dann eine Phase, wo mein Sozialverhalten sich gebessert hat und ich relativ integriert war. Im Pubertätsalter stellte sich dann eine extreme Introvertiertheit und Outsiderhaftigkeit ein, die Studienzeit dagegen war wieder eine Phase relativer "Normalisierung".
Ich frage mich heute, was geschehen wäre, wenn ich als Kind, Anfang der 1970er Jahre, von einem Psychiater untersucht worden wäre. Sicher hätte er irgendetwas diagnostiziert - aber was? Vielleicht eine narzisstische oder schizoide Störung. Im Jugendalter stellten sich erstmals Depressionen ein, die ich aber nicht behandeln ließ, weil ich vor meinen Eltern nicht als "krank" und Fall für die "Klapsmühle" gelten wollte. Ich habe immer, wenn auch mit viel Mühe, ein eigenständiges Leben führen können. Lange Zeit glaubte ich, meine Probleme seien durch soziale Ursachen wie ein ungünstiges Elternhaus bedingt; ich glaubte, diese Probleme überwinden zu können, ich glaubte an eine bessere Zukunft, die aber nie kam. Ich musste feststellen, dass ich in jeder Umgebung immer ein Fremder blieb. Das mündete in eine tiefe Krise mit immer schwereren Depressionen.
Von Asperger erfuhr ich erstmals zufällig durch einen Fernsehbericht über Jugendliche mit AS. Erstes Fallbeispiel: Ein Junge, der Fußballfan ist - das bin ich nicht -, aber im Unterschied zu anderen Fußballfans keinerlei Bilder von Spielern sammelt, sondern nur Gegenstände wie Fahnen, Trikots usw. Ich dachte: Hoppla, der ist ja wie ich - ich besitze auch kaum Fotos, sondern hebe als Erinnerungsstücke allerhand Gegenstände auf. Weitere Fallbeispiele wiesen weitere verblüffende Ähnlichkeiten auf. Es traf mich wie ein Blitzschlag. Ich informierte mich eingehend über das Thema und war fassungslos. Es war für mich eine völlig unerwartete Situation, der Realität ins Auge zu sehen, dass mein Anderssein auf einer letztlich genetisch verursachten Anomalie beruht. Ich fand mich schließlich damit ab, indem mir klar wurde, dass diese Anomalie nicht nur negativ ist, sondern auch die Ursache meiner Stärken. Obwohl ich in einer Universitätsstadt lebe, war es nicht ganz einfach, kompetente Ansprechpartner zu finden. Als ich schließlich eine wirklich fachkundige Psychiatrin gefunden hatte, stellte diese nach meiner auf Notizen und Fachliteratur gestützten Selbstdarstellung lapidar fest: Ja, es ist eindeutig Asperger.
Ich weiß, dass die Sachlage in den meisten Fällen komplizierter ist. Auch ich habe mich immer gefragt: Sind meine Eigenheiten eindeutig aspergisch, oder gibt es andere Erklärungen? Zum Beispiel das Thema Berührungsangst: Ich war als Kind sehr empfindlich gegen Berührungen, sehr schreckhaft und kitzelig - heute ist das nicht mehr so ausgeprägt. In meinem Elternhaus kam Körperkontakt allerdings sehr wenig vor, es herrschte allgemein eine ziemlich verkrampfte und verklemmte Atmosphäre. Ich habe lange Zeit meine Berührungsangst und meine Angst, Emotionen zu zeigen, als Reflex auf diese Atmosphäre gedeutet. Zweifellos spielen psychosoziale Faktoren in meiner Entwicklung eine erhebliche Rolle. Und man wird stets jedes einzelne bei AS auftretende Symptom auch auf andere Ursachen zurückführen können. Entscheidend ist die Kohärenz: "Aspie" ist ein Persönlichkeitstyp, bei dem diverse Merkmale auftreten, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang und keinen Sinn zu haben scheinen. In meiner Kindheit, als man von Asperger noch nichts wusste, gab es bei mir eine Reihe von Verhaltensweisen, die zunächst einmal einfach als unsinnig erscheinen (z.B. die Abneigung gegen bestimmte Textilien usw.). Die Diagnose "Asperger" macht einen Zusammenhang zwischen all diesen seltsamen Merkmalen verständlich. Und sie liefert einen Schlüssel zu jenem Persönlichkeitstyp, der bei mir tatsächlich sehr ausgeprägt ist: Das, was Tony Attwood über die "Entdeckung von Aspie" schreibt, trifft tatsächlich sehr präzise auf mich zu. Ich glaube, entscheidend ist wirklich die Frage, inwieweit man sich in diesem Persönlichkeitstyp wieder erkennt.
Ich habe vier Jahrzehnte ohne Diagnose gelebt - also ohne zu wissen, was tatsächlich mit mir los ist. Es ist mir, ohne Wissen um den Zusammenhang, gelungen, die meisten negativen und nachteiligen Aspie-Eigenschaften einigermaßen in den Griff zu bekommen und zurückzudrängen. Dennoch ist mir eine vollständige "Normalisierung" nicht gelungen, zumal ich stets Zweifel am Sinn dieser "Normalität" hatte. Schließlich habe ich meine Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit, meine Abneigung gegen Cliquenwesen, Mauscheleien, Korruption und Opportunismus, meine Treue zu Überzeugungen und meine Ehrlichkeit nie als etwas Negatives gesehen. Die Asperger-Diagnose, die zunächst einmal eine Selbstdiagnose war und dann nur noch von einer Fachärztin bestätigt werden musste, hat mir geholfen, mich selbst besser zu verstehen und nach Jahren einer sehr schweren Krise einen Neuanfang zu wagen. Ich möchte betonen, dass das der Sinn einer Diagnose ist: dass sie uns hilft, uns selbst zu verstehen. Das ist das Entscheidende. Deshalb sehe ich als Aspies vor allem diejenigen Menschen an, die in der Lage sind, durch die Asperger-Charakteristik sich selbst (und andere) besser zu verstehen.
|