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Wie haben Autisten/AS "früher" gelebt?

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11.06.16, 19:00:00

Totohut

Hallo in die Runde,

gerade neu angemeldet und mal eine Frage aus Interesse, vielleicht weiß jemand was dazu. Ich bin selber Asperger-Autist mit einer eher leichten Ausprägung, habe in meiner Jugend Therapie bekommen die mir beim Verstehen einiger Dinge geholfen hat und merke trotzdem in vielen Situationen eine gewisse Beeinträchtigung und Beschwerlichkeit im Alltag. Jetzt leben wir im 21. Jahrhundert in der wohl liberalsten und tolerantesten Zeit seit dem Urknall, zumindest was die Rechtssysteme unserer Breitengrade angeht, und ich frage mich seit wann es Autisten "gibt" und vor allem wie sie früher ge- und überlebt haben. Da müssen wir gar nicht ins Mittelalter zurückgehen, 100 oder 150 Jahre reichen ja schon (eigentlich noch weniger), von den gesellschaftlichen Normen die viel strenger definiert waren abzuweichen war ja mal Todsünde und die bestehenden Verhältnisse zu hinterfragen erst recht. Und alles viel vorbestimmter und in Stein gemeißelt

Wie sollen es Autisten da nervlich überlebt haben mit einem eigenwilligen und etwas erziehungsresistenten Charakter (den man sich nichtmal aussucht), ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn und der Manie bzw. Gabe für alles eine Erklärung und einen Sinn zu suchen?

Das muss doch wohl die Hölle gewesen sein?

Gruß, TH
11.06.16, 22:21:48

Antares

geändert von: Antares - 11.06.16, 22:28:03

Ich glaub es war umgekehrt. Ich hatte noch vor 30 Jahren meine Ruhe vor dem was die Gesellschaft heute macht. Da in meiner Familie noch zwei Generationen solche wie mich aufweisen dürften das etwa Deine 100 - 150 Jahre sein, die wir ganz gut gelebt haben. Eigentlich in unserer Familie sogar bis heute meist im Wohlstand und Behaglichkeit über dem Durchschnitt.

Ich selbst bin Autistin mit Leib und Seele, da wird nix therapiert, auch wenn ich noch so tief im Spektrum bin. Und das Bild mit Autisten stimmt was nicht mag ich sowieso nicht. Autisten sind gut so, wie sie sind. Klar.

Von einer toleranten Zeit merke ich nicht besonders viel. Einzelne Menschen ja. Aber die Zeit ist nicht besonders tolerant. Es gibt ABA und Co... von Toleranz gegenüber Andersartigkeit merke ich da nichts. Mich hat es fürchterlich entsetzt und anfangs in eine Ohnmachtstarre versetzt, wie sie heute mit den Kindern umgehen und was sie ihnen Fürchterliches antun.

Ich hab eine Weile gebraucht um zu begreifen, dass sie dies den Kindern tatsächlich nur antun, weil sie Autisten sind.

Und heute gibt es nicht mehr wie damals Nischen. Die Maschen werden enger, nicht lockerer. Und Globaler.

12.06.16, 00:12:53

Totohut

Danke für die interessante Antwort, in die Richtung habe ich auch schon gedacht, es gibt heute auch unschöne Aspekte das stimmt.

Die Therapie sehe ich auch kritisch wenn sie in die Richtung geht einen in Form zu pressen, was aber hilfreich sein kann ist wenn es sich um eine Aussrache handelt und man sich mit den Unterschieden zu "den" Neurotypikern auseinandersetzt und versteht woher einige Alltagsprobleme die man so hat rühren. Von meiner Persönlichkeit und meinem Wesen habe ich dabei nichts eingebüßt und das ist auch gut so.

Institutionell und durch Gesetze gibt es zumindest in der Theorie heute einen würdigeren Umgang, ich bekomme in der Uni bei Prüfungen einen Zeitzuschlag und einen ruhigeren Platz im Prüfungssaal und werde von allen Beteiligten mit Respekt behandelt. Ob die ganze Political Correctness echt ist und ob der Einzelne auf der Straße tolerant ist ist ein anderes Thema.

Meinetwegen können wir auch weit mehr als 150 Jahre zurückgehen, heute ist es allgemein (ob Autist oder nicht) akzeptierter Autorität zu hinterfragen und eigene Vorlieben auszuleben, das gehört ja inzwischen quasi zum guten Ton. Und man hat mehr (mehr, nicht unendlich) Freiheit sich selbst zu verwirklichen wovon Menschen mit Autismus [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] indirekt profitieren. Das soll jetzt nicht idealtypisch klingen aber da sollte etwas dran sein.
12.06.16, 07:39:42

Antares

Es gibt schon die UN-Behindertenrechtskonvention und die wurde auch unterzeichnet 2009. - sie wurde nur nicht umgesetzt.

Derzeit bedeutet es sehr viel Anpassung v.a. die erwartet wird. Von Würde ist da nichts übrig. Auch nicht in der Unterbringung von autistischen Kindern. Sie werden den ganzen Tag mit PECS, TEACCH und Co dazu gedrängt zu funktionieren, sich noch mehr anzupassen...

- sie sollen endlich so sprechen wie Nicht-Autisten (Logo, PECS, Computergestütztes Training,...)
- sie sollen endlich so interagieren wie Nicht-Autisten (SoKO, HzE, Eingliederung,...)
- sie sollen so leben wie Nicht-Autisten (TEACCH, engmaschige Betreuung,...)

und wenn die Kinder dann zusammen brechen ob der Barrierelast, weil auf die Idee die Barrieren effektiv abzubauen kommen sehr wenige, dann werden sie ins Kinderheim gebracht, mit 4 Jahren schon manchmal, mit 9 oder auch 12... wenn dann halt immer noch kein Nicht-Autist, sondern dann nur ein autistisches Wrack draus wurde.

Das zieht sich durch die Kitas und Schulen, die Familien und Kinderheime.

Von Selbst Verwirklichung ist da keine Spur, denn dann sollen sie wenn sie das irgendwie überstanden haben "normal" arbeiten. Manchmal landen sie auch in Werkstätten oder auf dem sog. 2. Arbeitsmarkt und werden meistbietend vermarktet. Die dann folgende Behindertenindustrie, der "Markt" der Unternehmen die sich dann um die "Vorherrschaft" streiten ist enorm.

Wir sprechen deshalb nur noch von "Autisten". Wenn man das Wort Autismus verwendet sehen sie sofort die Dollarzeichen, was man da alles behandeln kann.

Nachteilsausgleiche sind in der Gesellschaft nur zu gewähren, weil es nicht inklusiv gestaltet wurde, so dass Du daran teilnehmen kannst wie alle anderen auch. Das universelle Design der Universitäten ist auch (noch) nicht auf die UN-Behindertenrechtskonvention angepasst. Es dürfte keine Diagnosen mehr geben müssen... so wie bei mir früher in der Schule bis zum Realschulabschluss. Es war so gewöhnlich die Bedürfnisse zu respektieren, dass nie jemand auf die Idee kam zu fragen warum ich so bin, wie ich bin. Es war so und das war gut so.

- und wenn ich im Dorf am Bach saß während der Schulzeit
- ich nie vorlas
- in den Pausen mich in die Themen mit den Lehrern vertiefte in den Klassenräumen
- uvm.

Das gibt es heute alles nicht mehr. Heute braucht es einen Nachteilsausgleich allein um das Schulgelände zu verlassen. Und auch nur im Unterricht zu zu hören, oder einen eigene Methode zu entwickeln, oder im Unterricht Buch zu lesen, oder das Ergebnis ohne Methode aufs Blatt zu schreiben... das gibt es alles nicht mehr.

Gab es aber früher auch nicht überall. Aber immer wieder. Heute gibt es das eigentlich gar nicht mehr. Außer eine Schule hat sich auf Inklusion eingestellt, nur davon kenne ich (noch) keine. Es dürfte keine Diagnose mehr brauchen, damit alle gemeinsam so sein können wie sie sind.

Derzeit ist Integration vorherrschend: also Nachteilsausgleiche und Förderprogramme



12.06.16, 11:55:21

55555

geändert von: 55555 - 12.06.16, 11:56:31

http://auties.net/soziohistorische_einordnung
 
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