"Störungswahn? Psychiater streiten um die Zukunft ihres Fachs"
05.02.13, 21:59:48
wolfskind
Zitat:
Mit anderen Psychiatern startet er eine Kampagne gegen das DSM-5. Der Streit eskaliert: Frances spricht von einem Bürgerkrieg im Herzen der Psychiatrie.
"Ich befürchte, dass DSM-5 die Grenzen der Psychiatrie über das Notwendige hinaus ausdehnt und so das Leben vieler Menschen dramatisch beeinflusst."
Lange Zeit interessierte das DSM, das "Diagnose-und Statistik-Handbuch für psychische Störungen" nur Experten. Aber im Jahr 2009 ist es zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden. Sein Einfluss ist immens. Es wird von der amerikanischen Psychiatrie-Vereinigung APA herausgegeben, wirkt aber weit über die USA hinaus. Seine Definitionen sind weltweit maßgeblich für die psychiatrische Forschung. Außerdem färben sie auf den psychiatrischen Teil des ICD ab, des Internationalen Klassifikationskatalogs für Krankheiten, den die Weltgesundheitsorganisation WHO herausgibt. Das im Moment noch gültige DSM-4 stammt aus dem Jahr 1995, alle 15 bis 20 Jahre werden beide Handbücher erneuert.
Zitat:
Seine Kritik am DSM-5, betont Frances, beruhe gerade auf den Lehren, die er aus der seitherigen Entwicklung gezogen habe. Im DSM-4 sei man noch sehr vorsichtig mit Definitionen umgegangen. Trotzdem stieg danach die Zahl der psychiatrischen Diagnosen rapide an.
"Wir haben im DSM-4 zum Beispiel eine neue, milde Form des Autismus eingeführt, den Asperger-Autismus. Wir hatten gehofft, dass sich dadurch die Zahl der Autismus-Diagnosen um ein Drittel reduzierten würde - sie hat sich aber verzwanzigfacht. Und Studien legen nahe, dass etwa die Hälfte der Diagnosen falsch sind."
Jeder fünfte Amerikaner nimmt heute ein Medikament wegen eines psychiatrischen Leidens ein. Und in Deutschland erfüllen bereits 30 Prozent der Menschen zwischen 18 und 65 Jahren die Kriterien für eine psychische Krankheit. Zu viele, meint Allen Frances, und DSM-5 würde die Zahlen noch einmal nach oben treiben.
"DSM-5 fügt der Psychiatrie neue Diagnosen hinzu und verringert die Schwellwerte einiger bestehender Störungen. Das wird aus der gegenwärtigen Inflation eine Hyperinflation machen. Und wenn Menschen unzutreffende Diagnosen erhalten, stigmatisiert man sie und behandelt sie mit Medikamenten, die gefährliche Nebenwirkungen haben können. Das Problem besteht darin, dass die Grenze zwischen milden psychiatrischen Krankheiten und der Normalität völlig unscharf ist. Wir müssen daher die Kriterien diskutieren, die wir für Störungen benutzen."
Zitat:
Der Vorteil der DSM-Diagnosen, sagen ihre Befürworter, bestünde gerade darin, dass sie so neutral und nur beschreibend seien. Sie definieren nicht, wie der einzelne Psychiater die Störung zu erklären und zu therapieren hat. Sie seien reine Konstrukte, mit deren Hilfe Therapeuten auf unterschiedliche Weise drei Dinge zusammenbringen können: die Vielfalt und Wechselhaftigkeit der Symptome, die Lebensgeschichte und das subjektive Erleben der Betroffenen. Da Symptome so vieldeutig, individuell, unscharf und wandelbar sein können, meint dagegen Allen Frances, dürfe man eben auch nicht alles unter eine Störung zwängen wollen. Das DSM-5 weite das Reich der Störungen weiter aus und verstärke die Macht der Diagnosen über die facettenreiche Wirklichkeit. Das sei gefährlich, weil auch leichte Probleme erfasst würden. Zum Beispiel im Fall der Depression.
Zitat:
Ähnlich geht der Streit auch um andere Veränderungen in DSM-5. Die Kritiker monieren unter anderem, dass auch die Diagnose für ADHS ,die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung' auf Erwachsene ausgeweitet werden soll: "Hyperaktives Arbeiten" wird zur Störung. Oder sie beanstanden, dass jemand, der drei Monate lang einmal pro Woche eine Fressattacke hat, unter eine neue "Komafressstörung" fällt. Kinder, die häufig unerklärliche Wutanfälle bekommen, erhalten künftig die neue Diagnose "Gemütsregulationsstörung mit Verstimmung"
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/wib/1996033/
06.02.13, 01:31:32
Fundevogel
In einer mir bekannten Gutachterpraxis Psychiatrie/Neurologie wird den zu Begutachtenden ein Micronic mit einem sehr umfangreichen Fragenkatalog in die Hand gedrückt mit der Erklärung, dass die Auswertung der Fragen der Unterstützung der Diagnose diene (kein Hinweis auf außerhäusige Datenverwertung).
Auf die Frage eines Patienten, dass ein großer Teil der Fragen nicht auf die persönliche Situation zugeschnitten sei, wurde geantwortet: "Dann kreuzen sie etwas an, was ähnlich ist."
Folgerichtig haben wir dann als Ergebnis eine Menge herbei geahnter Diagnosen.
06.02.13, 12:21:30
drvaust
Warum geht es immer wieder um DSM? Das ist ein fremdländischer Katalog, aus Übersee. Was interessiert das in Deutschland?
Ich sehe das Problem nicht bei den Definitionen, sondern bei der Einstufung als Krankheiten, und der Ausgrenzung von Kranken und Behinderten. Wenn es nur darum ginge, welche Probleme jemand hat und wie man ihm helfen könnte, wäre das gut. Aber die Gesellschaft duldet, übertrieben, nur Normale, Unnormale werden passend gemacht oder abgeschoben.
Auf die Frage eines Patienten, dass ein großer Teil der Fragen nicht auf die persönliche Situation zugeschnitten sei, wurde geantwortet: "Dann kreuzen sie etwas an, was ähnlich ist."
Folgerichtig haben wir dann als Ergebnis eine Menge herbei geahnter Diagnosen.
Das scheint üblich zu sein, ich habe dieses Problem meistens.
Da sind Fragen, die ich zwar exakt beantworten könnte, aber diese sind anders gemeint (z.B. Sind sie sexuell aktiv? - 'Ja, ich bin sexuell sehr aktiv (Fetisch)' Aber ich hatte noch nie Geschlechtsverkehr.).
Oder Fragen, die zwei Antworten enthalten, aber nur mit 'Ja' oder 'Nein' beantwortet werden können (Z.B. Sind Sie gerne unter Menschen oder nicht? - 'Ja, ich bin gerne unter Menschen.' 'Ja, ich bin nicht gerne unter Menschen.').
Außerdem wird oft mißverständlich oder andeutend gefragt. Ich wurde z.B. gefragt, ob ich trinke. Ja, ich trinke viel. Ein entsetzter Blick, weil ich nicht wie ein Alkoholiker wirke. Da wurde mir klar, daß Alkohol gefragt war. Nein, ich trinke viel Tee.
Manchmal denke ich, die Ersteller dieser Fragebögen sollten erstmal exaktes Deutsch lernen, zumindest logische Fragestellungen.
06.02.13, 14:25:17
55555
Wenn wir es mal von diesem Blickwinkel getrachten: Warum sollten sie etwas ändern, wenn die Irrtümer lukrativ sind?
06.02.13, 22:05:15
drvaust
Ich vermute, daß das nicht beabsichtigt ist.
Ich denke, daß das auf der üblichen fehlerhaften umschreibenden Andeutungssprache beruht. Jeder normale Mensch weiß, was gemeint ist, obwohl das falsch formuliert ist. Nur ich, und einige Andere, verstehen das so, wie es formuliert wird. Z.B. die Frage 'Sind sie Alkoholiker?' ist sehr unhöflich, also wird von Trinken gesprochen. Jeder normale Mensch hier weiß, was damit umschrieben wird, nur ich verstehe das so, wie es formuliert ist.
Daß das absichtlich irrtümlich formuliert ist, um Diagnosen stellen zu können, halte ich für unwahrscheinlich. Sonst könnte man das wesentlich einfacher auswürfeln o.ä. (Manche Fragebögen sind sehr teuer, weil der Urheber dafür Lizenzgebühren verlangt.).
06.02.13, 23:56:55
Waldstein
Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass die Diagnose üblicherweise an ein paar missverständlichen Fragen hängt. Wer so in der Grauzone ist, dass ein paar Fragen da den Ausschlag geben würden, würden vermutlich bei den meisten seriösen Stellen nicht als A, AS usw. diagnostiziert (obwohl man ja auch von Stellen hört, bei denen das alles sehr leger gehandhabt wird).
Vielmehr glaube ich, dass die Betreffenden Personen selbst es sind, die für eine gewisse Unschärfe sorgen - wenn auch unabsichtlich.
Die Frage nach Routinen und Ritualen wird meiner Beobachtung nach z. B. extrem uneinheitlich beantwortet. Für manche ist eine Tasse Kaffee jeden Morgen schon subjektiv empfunden ein wichtiges Ritual - ist es aber für neurotypische Personen auch. Von einer Asperger-Autistin hörte ich mal, dass sie es als autismustypisches "Spezialinteresse" bewertet, ein mal pro Woche regelmäßig zum Sport zu gehen. Andere hingegen würden das völlig anders sehen und als Spezialinteresse ausschließlich ein Interesse bezeichnen, dass sie täglich viele Stunden in Anspruch nimmt und sie von alltäglichen Verrichtungen abhält und sie in diesem Bereich absolute Spezialisten geworden sind. Und die Frage nach sexueller Aktivität: manche finden das schon viel, wenn sie ab und zu aktiv sind und manche finden dass das erst dann der Fall ist, wenn sie mehrmals täglich in dieser Hinsicht aktiv sind.
Was ich damit sagen will: die subjektive Empfindung, wie gravierend etwa bewertet wird und damit beispielsweise auf einer Skala von 1-5 angekreuzt wird, wird bei jedem anders ausfallen.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle dürfte auch spielen, ob der Betreffende eine mögliche A-Diagnose als Erleichterung oder eher als Bedrohung empfindet. Wer eine Diagnose unbedingt haben WILL, weil es die Erklärung für vieles sein könnte, der wird vielleicht auf bestimmte Fragen unbewusst auch etwas mehr in die AS-Richtung antworten als jemand, der sich gegen die Diagnose sträubt.
Ein Problem sehe ich in diesem Zusammenhang auch darin, dass manche psychische Diagnosen schon fast Hipness-Status haben (für Narzissten) oder einem auch von der Psycho-Industrie eingeredet wird, so eine diagnostizierte "Behinderung" habe ganz viele "Vorteile" (Behindertenausweis usw. usw.). Und schwuppdiwupp gehts ab in die Behinderten-Industrie, aber das wird natürlich nicht dazu gesagt. Leute, denen "Nachteilsausgleiche" wie die Wurst vor die Hundenase gehängt wird, die werden solche Tests sicher tendenziell anders ausfüllen als die, die auf keinen Fall als "Psycho" in ihre Umfeld-Historie eingehen wollen.
07.02.13, 02:28:04
Fundevogel
Woody Allen lässt in seinem Film "Whatever works" den Hauptdarsteller diese Probleme mit der "Heisenbergschen Unschärferelation" erklären:
Zitat wikipedia:
"Heisenberg erkannte, dass die mikroskopische Bestimmung des Ortes x eines Teilchens im Allgemeinen zu einer Beeinflussung (Störung) des Impulses p des Teilchens durch den Messapparat führen muss. Da aber die „Bahn“ des Teilchens maßgeblich durch seinen momentanen Impuls bestimmt ist, kann sie nach der Kenntnisnahme des Ortes durch den Beobachter nicht mehr denselben Verlauf haben wie vorher. Die Frage danach, ob eine Teilchenbahn existiert, wenn keine Beobachtung vorgenommen wird, wurde in der Physik intensiv diskutiert (vgl. Kopenhagener Diskussion).";)