Zum Begriff "Diagnose"
04.02.12, 13:00:25
55555
Da
hier der Begriff einer Kritik unterzogen wurde, finde ich es reizvoll zu überlegen, ob der Begriff an sich pathologisierenden Charakter besitzt. Wird Hochbegabung nicht auch diagnostiziert? Wenn Geräte eine Selbstdiagnosefunktion haben, geht es da aber eigentlich nur um mögliche Fehlfunktionen, oder? Und die Masse der medizinischen Diagnosen dürfte eindeutig die Einordnung als Krankheit bedeuten? Wer nicht für krank befunden wird erhält auch keine Diagnose, soweit ich weiß.
04.02.12, 20:01:48
feder
Hochbegabung gilt auch im deutschsprachigen Raum zunehmend als etwas, bei dem sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wird. In den USA gehört sie auch schon seit längerem in den Bereich der Special Needs. Soweit ich mich erinnere, wird das damit begründet, dass ohne sonderpädagogische Förderung "Entwicklungsbeeinträchtigungen" nicht vermieden werden könnten. Und bei dieser Argumentation scheint es mir schon so zu sein, dass die Hochbegabung als Ursache für allfällige "Entwicklungsbeeinträchtigungen" gesehen wird und nicht ein starres Schulsystem, bzw. allgemein mangelndes Eingehen auf die jeweiligen (intellektuellen) Bedürfnisse des Schülers. Ganz lesenswert finde ich in diesem Zusammenhang z.B.
dieses Buch.
04.02.12, 21:02:53
wolfskind
wie wäre es statt diagnose mit "lebensformen" oder "wesensarten"
diagnosen gibt es für dinge die krankheitswert haben.
die bewertet werden müsse im rahmen von untersuchungen
die bewiesen werden müssen.
im medizinischen bereich ist es sinnvoll diagnosen zu bekommen
damit man nicht überall wo man mit einer chronischen erkrankung neu hin kommt
bei 0 anfangen muss, diagnosen berechtigen gewisser maßen auch dazu medikamente zu nehmen.
hochbegabung wird auch mit diagnose schlüssel versehen?
05.02.12, 00:15:53
drvaust
Zitat:
Der Begriff Diagnose (griechisch διάγνωση, jeweils heutige Aussprache diágnosi, wörtlich „die Durchforschung“ im Sinne von „Unterscheidung“, „Entscheidung“; aus δια-, dia-, „durch-“ und γνώση, gnósi, „die Erkenntnis“, „das Urteil“) bezeichnet das Bewerten von Informationen über einen Sachverhalt und das Zuordnen von Phänomenen und Merkmalen zu einer Kategorie eines Klassifikationssystems.
Quelle
Ich sehe den Begriff Diagnose grundsätzlich neutral.
Meistens geht es bei einer Diagnose aber um eine Fehlersuche. Umgangssprachlich wird kaum von einer Diagnose ohne Befund gesprochen. Ich habe schon mehrmals positive Diagnosen bekommen, also das Ergebnis war gut.
Manche Geräte beginnen ihre Arbeit mit einer Selbstdiagnose. Dabei sollen Fehler rechtzeitig gefunden werden, damit es bei der Arbeit keine Probleme gibt. Normalerweise finden sie dabei nichts und arbeiten dann normal.
hochbegabung wird auch mit diagnose schlüssel versehen?
Mir ist kein spezieller Diagnoseschlüssel dafür bekannt. Aber das wurde schon als Entwicklungs- oder Persönlichkeits-Störung eingestuft.
06.02.12, 23:13:09
Vendela
Diagnosen messen den Ist-Zustand und vergleichen ihn oft mit dem Idealzutsand. Sie haben immer etwas Subjektives, 100% objektiv ist kaum möglich. Oft werden sie von einem "Experten" gestellt und gelten dann als richtig, können aber trotzdem falsch sein. Und sie sind meistens Mittel zum Zweck, die Frage ist nur für wen und wofür. Deshalb sind sie mir ein bisschen unsympatisch, auch wenn sie eine Orientierungshilfe sein können.
Dass man im Gesundheits-Bereich Diagnosen nur für Krankheiten bekommt, hat z.T. abrechnungstechnische Gründe (Diagnosen rechtfertigen Dienstleistungen und Medikamente, die von Krankenversicherungen teilweise bezahlt werden).
Die Gleich-Machung in der Schule rührt zum Teil daher, dass Schule ursprünglich u.a. als Zeit vor der Verwendung von Menschen im militärischen Bereich betrachtet wurde und deshalb auch darauf vorbereiten sollte. Alles was irgendwie abweicht ist dort nicht erwünscht, also auch keine Hochbegabung, wenn sie in irgendeiner Form spürbar ist.
06.02.12, 23:18:05
55555
"Der Idealzustand"? Wenn dem so wäre. wäre es für mich ein Grund dieses Wort auf meine schwarze Liste zu setzen. Meines bisherigen Wissen steckt dieses Weltbild aber nicht zwangsläufig im Begriff.
10.02.12, 06:57:29
Vendela
Wie siehst du das denn?
Und was steht auf deiner schwarzen Liste? Wörter, die du nicht verwendest?
10.02.12, 12:22:43
55555
Auf der "schwarzen Liste" stehen Worte, die ich nicht für vertretbar halte, ja.
Zu dem Begriff habe ich noch keine klare Haltung, deswegen finde ich eine erhellende Diskussion wünschenswert.
10.02.12, 13:13:08
Fundevogel
Andere Begriffe wie "Forschungsergebnis" oder "Ergebniss von Studien" bleiben in der Anwendung neutral - vielleicht weil sie auf Sachebene angewendet werden.
"Diagnose" begründet - ob gewollt oder nicht - ein (empfundenes) Machtverhältnis: Auf der einen Seite ist der, der die Macht hat sie zu stellen und auf der anderen Seite ist der zu Bewertende, bei dem Mängel/Fehler/Unstimmigkeiten... zu erklären versucht werden, also ein Über- und Unterordnungsverhältnis begründet wird.
"Götter in Weiß" ist ein populärer Begriff, der Wahrnehmung festschreibt.
Im speziellen Fall ärztlicher Diagnosen gelingt manchen Ärzten und Patienten ein Verhältnis auf Augenhöhe. In sehr vielen Fällen aber fühlen sich Patienten in Verteidigungsposition: Chefsessel, Schreibtisch und Besucherstuhl tun ihr übriges, um klassische Machtpositionen zu dokumentieren.
Ein abgeschlossenes Studium - mit Diplomen an den Wänden belegt - und eine für den Untersuchenden schwer zu verstehende Sprache verstärkt bei vielen Ohnmachtsgefühle, während Diplome und Fortbildungsnachweise z.B. in Autowerkstätten ganz anders bewertet werden.
10.02.12, 14:44:32
Lenz2011
Ihr habt mich schon für vieles sensibilisiert was mir bisher nicht so bewusst war. Trotzdem gebe ich zu bedenken: Eine Diagnose kann auch Klarheit schaffen.
10.02.12, 15:15:49
55555
geändert von: 55555 - 10.02.12, 15:54:53
Machtverhältnisse gibt es wohl immer, auch bei Betreibern von Studien, die gar nicht jeder einfach so selbst nachvollziehen könnte?
Interessanter fand ich eher die Frage, ob der Begriff sprachlich gesehen auf etwas Negatives hindeutet oder dies nicht unbedingt tut.
Edit:
Hier mal eine Sammlung der nicht direkt medizinischen Begriffsverwendung in Medienartikeln.
Zitat:
Fast könnte man, im Gegenteil, als Trend diagnostizieren: eine Rückkehr zum Tanz.
Quelle
Zitat:
Schommers: Indem wir geringste Abweichungen über die gesamte Lebensdauer der Aggregate diagnostizieren und die Motorsteuerung entsprechend verändern.
Quelle
Zitat:
Als Ursache diagnostizieren die Fachleute "wirtschaftliche Unsicherheiten und die damit verbundene hohe Arbeitslosigkeit".
Quelle
Zitat:
Die Japaner kritisieren, daß Hamburg sich viel um China kümmert, die Hamburger diagnostizieren steigerungsfähige Bemühungen der Partnerstadt Osaka.
Quelle
Zitat:
Verbürgerlichung lässt sich hier nicht diagnostizieren.
Quelle
Zitat:
Schon möchte man einen Trend diagnostizieren, denn Brendel, der früher gerne grimmig am Klavier saß, wird im Alter auch in seiner Mimik überraschend mild.
Quelle
Zitat:
Sicher zu diagnostizieren ist allein ein flächendeckendes Versagen erfolgsorientierter Minderheitenförderung, das sich hierzulande besonders schwer auswirkt.
Quelle
Zitat:
Aber so weit, ein Problem an der Oppenheim-Oberschule zu diagnostizieren, will Frisse nicht gehen.
Quelle
Zitat:
Alle vier sehen die Politik in einer Glaubwürdigkeitskrise und sich besonders dazu befähigt, die Ursachen der Krise zu diagnostizieren.
Quelle
Zitat:
Während die einen von schmerzlichen, aber unvermeidlichen Einschnitten sprechen, beklagen die anderen die Unausgewogenheit der Sparkonzepte sowie mangelnde Solidarität und diagnostizieren einen massiven Vertrauensverlust an der Basis.
Quelle
Zitat:
Schon sein Verweis darauf, dass seine Amtszeit als Parteichef 2007 ende, reicht nun schon aus, um bei Schönbohm eine gewisse Amtsmüdigkeit zu diagnostizieren.
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Zitat:
Was ist, wenn wir eines Tages auch diagnostizieren könnten, ob ein Fötus zum Beispiel homosexuell wird?
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Zitat:
Ich kann nur die heutigen Trends diagnostizieren und Voraussagen treffen", sagt Matthias Horx.
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Zitat:
Offenbar sei es ein Trugschluss gewesen, für Deutschland einen "Investitionsstau" zu diagnostizieren.
Quelle
Zitat:
Die Union weigert sich, eine solche Störung zu diagnostizieren.
Quelle
12.02.12, 17:10:24
Vendela
Es stimmt zwar, dass Diagnosen Klarhheit schaffen können, aber sie sind nicht objektiv, sondern vom Einfluss des Diagnostizierten abhängig, nicht nur weil eine gewisse Mitwirkung notwendig ist, sondern weil sie von Menschen gestellt werden, die sich normalerweise nicht die Zeit nehmen wollen, nicht das nötige Fachwissen haben oder aus anderen Gründen nicht in der Lage sind, eine annähernd objektive und damit richtige Diagnose zu stellen. Ist diese Mitwirkung nicht in dem Maß möglich, wie sie notwendig ist, gibt's eine falsche oder keine Diagnose. Dann weiß man im schlimmsten Fall weniger als vorher. Dass Diagnosen oft anhand standardisierter Kriterienkataloge gefällt werden, kann zwar eine Orientierung geben, aber die korrekte Diagnosestellung auch erschweren.
Manche Beispiel-"Diagnosen" klingen wie Wünsche, dann sind sie vielleicht positiv gemeint.
Mit dem Idealzustand meinte ich, dass oft ein Vergleich dahinter steht, zwischen dem Beobachteten und etwas anderem, auf das sich der Vergleich bezieht und das letztlich vom Diagnostiker willkürlich gewählt worden ist. Nicht ich finde es ideal, sondern der Diagnostiker findet es so ideal, dass er etwas anderes dazu ins Verhältnis setzt.