08.10.06, 10:03:59
Lisa M.
Der Begriff wird hier ähnlich wie in den bürgerlichen Massenmedien oft als Synonym für "Regellosigkeit, Zügellosigkeit" verwendet. *Sehr viele* Anarchisten streben jedoch keineswegs ein solches "Recht des Stärkeren und Fieseren" an.
Für die meisten Anarchisten heißt Anarchie "ohne Herrschaft" (An-archie). Viele Anarchisten präzisieren noch: "Ordnung ohne Herrschaft". Dies beinhaltet nicht nur, keinen Chef zu haben, sondern auch, andere nicht zu unterdrücken. Gewalt (und hierzu zählt jede Form der Repression) wird von solchen Anarchisten generell abgelehnt (siehe auch: "Graswurzel-Revolution" bzw. "Graswurzler") oder als "Gegengewalt" für lediglich defensive Zwecke akzeptiert ("Karate sein nur für Verteidigung"). Irgendwelche Extra-Aussagen, ob Mobbing oder Diffamierung erlaubt seien, werden meines Wissens nicht gemacht. Ich schätze, weil es für zu selbstverständlich gehalten wird, dass das nicht im Sinne der Gesamtaussage ist (vgl. Wikipedia zum Thema
Anarchismus).
Lediglich einige wenige Individual-Anarchisten meinen, Anarchie sei eine allgemeine Regellosigkeit. Aber auch den Individual-Anarchisten sollte man dies nicht pauschal unterstellen.
Henry David Thoreau z.B. war Individualanarchist. Er quittierte seinen Dienst als Lehrer, nachdem er Ärger mit der Schulleitung bekommen hatte, weil er sich weigerte, Kinder zu schlagen und weigerte sich, Steuern zu zahlen, so lange die Sklaverei nicht abgeschafft war. Sein Buch "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" avancierte zum Standardwerk und Namensgeber des Zivilen Ungehorsams und diente u.a. Mahatma Gandhi und Martin Luther King als Inspirationsquelle für den gewissensgeleiteten, gewaltfreien Widerstand gegen die Obrigkeit. Bekannter ist sein Buch "Walden. Oder das Leben in den Wäldern" und die Tatsache, dass er sich zwei Jahre lang in den Wald zurückgezogen hat.
Weitere Anarchisten, die als "pubertär" und sonstwie kindisch abzutun etwas peinlich sein dürfte, wären z.B. der Philosoph Günther Anders, Bertrand Russel, Noam Chomsky, B. Traven und Simone Weil (die allesamt eher in anderem Kontext bekannt wurden).
Zum Abschluss noch ein hübsches Zitat eines Anarchisten (Raoul Vaneigen): "Leute, die über Revolution reden, oder über Klassenkampf, ohne sich dabei explizit auf das alltägliche Leben zu beziehen, die nicht verstehen, was subversiv an der Liebe ist und was positiv ist an der Zurückweisung von Beschränkungen, solche Leute haben eine Leiche in ihrem Mund." (
Quelle)
23.08.11, 01:49:15
Bromelie
In "Der Freiheitssucher" beschreibt Mackay den m.E. einzig wahren (Weg zum) Anarchismus.
Ich rege mcih jedes mal darüber auf, wenn ich höre, dass z.B. die aktuellen Proteste in Nordafrika oder die Plünderungen in England als Anarchie bezeichnet werden. Das ist KEINE Anarchie! Es wird von ungebildeten Menschen als dieses bezeichnet. Würden diese Menschen jedoch mal ein Buch zu dem Thema in die Hand nehmen, oder "Anarchismus" googeln, würden sie schnell feststellen, dass ihr Verständnis von Anarchie völlig falsch ist und selbst Wikipedia mal recht hat: "Landläufig wird Anarchie auch mit einem durch die Abwesenheit von Staat und institutioneller Gewalt bedingten Zustand gesellschaftlicher Unordnung, Gewaltherrschaft und Gesetzlosigkeit beschrieben und vor allem in den Medien häufig im Schlagwort „Chaos und Anarchie“ verwendet. Die tatsächliche Bezeichnung für einen solchen Zustand jedoch ist
Anomie."
Anarchie ist kein Zustand, es ist ein Prozess. (und mein Spezialinteresse?!)^^
23.08.11, 11:23:43
Hans
Die Chaoten, die im Mai am Lausitzer Platz Steine werfen,
bezeichnen sich als
Autonome
Was ist da Dein Spezialgebiet, die Begriffskunde oder die Politik ?
27.08.11, 19:14:39
Fundevogel
Ich denke, dass sie gezielt als Anarchisten bezeichnet werden, weil der Begriff im allgemeinen (Un)Verständnis für Gesetzesbrecher steht? Das setzt das berechtigte Ansinnen der Protestler in ein schlechtes Licht und die Politik kann ihren Kurs unverändert weiter führen, weil ja landläufig niemand was mit Anarchisten zu tun haben will und die "eh nur gegen alles sind".
30.08.11, 21:51:49
PvdL
Die üblichen Herrschaftssysteme beruhen -- im Sinne von Thomas Hobbes "Leviathan" -- auf dem Prinzip, daß der Einzelne große Teile seiner persönlichen Herrschaftsrechte an ein Herrschaftsorgan deligiert. Dadurch soll der Einzelne und schließlich auch die Gesellschaft an Sicherheit und Stabilität gewinnen.
Mit Anarchie kann nur eine Absage an o.g. Prinzip gemeint sein, d.h. der Einzelne behalte seine Herrschaftsrechte und lebe als König seiner selbst in einer Gesellschaft von Königen. REX QVI SE IPSE REGIT.
Diese Art der Individualherrschaft setzt indes voraus, daß sich jeder selbst beherrschen kann. Und genau an dieser Stelle beginen die Probleme. Nicht jeder kann das.