20.09.06, 08:17:43
Lisa M.
So, einerseits ist hier immer mal vom "hochautonomen Individuum" die Rede, andererseits kann ich mich bei mir auch an eine dazu im Widerspruch stehende Tendenz erinnern und finde hier Geschichten wie z.B., dass jemand sehr lange an den Weihnachtsmann geglaubt hat.
Vor längerer Zeit schon - ohne was von AS zu wissen - bin ich drauf gekommen, dass ich meinen Eltern geradezu dankbar sein müsste, dass sie während meiner Pubertät alkoholbedingt so widersprüchliche moralische Anweisungen gaben und auch mit ihrem eigenen Handeln oft im Widerspruch zu dem standen, was sie mir so erzählten, dass mir einfach nichts anderes übrig blieb, als selbst zu denken. Ich war damals nämlich gern bereit, an nahezu beliebige Werte zu glauben wie ein kleines Kind an den Weihnachtsmann, und mich ohne Bedenken daran zu halten. Es war nur eben nicht möglich. Um's mal ins Komische zu ziehen:
Da hatte mir meine Mutter ewig was vorgeschwärmt von der "großen Liebe" und dass Liebe überhaupt das Wichtigste sei im Leben, und da hatte ich nun einen Kerl und war bereit, die Schule zu schmeißen und ihn zu heiraten, und dann war's auch wieder nicht recht. Plötzlich hieß es, ich dürfe nicht in Weiß heiraten, weil ich keine Jungfrau mehr sei. Starkes Stück! Hatte meine Mutter nicht stets erzählt, dass sie und mein Vater ihre Heirat noch während der Minderjährigkeit meiner Mutter durchgesetzt hatten, indem sie für eine Schwangerschaft sorgten? Das war mir als das vermittelt worden, was man so tut, wenn man lieber mit seinem Freund zusammenleben will als mit seinen Eltern. Und außerdem, das Kinder das Schönste sind im Leben und dass ein Dasein als Hausfrau und Mutter erstrebenswerter sei als ein Beruf. Ich hab mich an all das artig gehalten, und plötzlich war die Hölle los.
Auch bei der Schwierigkeit mit dem Lügen hab ich jedenfalls bei mir nicht das Gefühl, dass ich zu verpeilt bin um zu wissen, wie man das macht. Ich kann da nur einfach meine spontanen Skrupel nur dann überwinden, wenn ich mir die Sache vorher in Ruhe überlegen konnte und zu dem Schluss gekommen bin, dass es einen ethisch einwandfreien Grund dafür gibt. Insbesondere, wenn mir die andere Person sympathisch ist, bin ich da einfach durch Skrupel gehemmt. Ich kann mich erinnern, dass ich mal ziemlich schockiert war, als ich mitkriegte, wie meine Mutter am Telefon jemanden belog.
Ich kann mich erinnern, dass ich mal furchtbar schockiert war, als mein Bruder von meiner Mutter sprach und sie erstmals "die Alte" nannte. Und das war wirklich schon recht tragisch für mich, denn erschwerend kam hinzu, dass er grade für meiner Mutter "der Brave" war, während ich "die Widerborstige, Ungezogene" zu sein schien. Wie ungeheuer heimtückisch erschien er mir von da an! (Naja, das ist ein *bisschen* übertrieben...)
Ich war auch schockiert (da war ich über 20), als mir eine Bekannte erzählte, dass sie nicht bereit sei, für ihren Mitbewohner mit zu putzen, obwohl der einen Job hatte und sie nicht. "Aber man muss doch zusammenhalten und sich gegenseitig helfen", so ungefähr war mein Einwand. "Ja, aber er gibt mir ja auch nichts von seinem Geld." antwortete sie. Das gab bei mir 'ne spontane Erkenntnis, dass sie Recht hat, die wohl später dazu führte, dass ich mich mit Theorien über die ökonomische Bedeutung der Reproduktionsarbeit im Kapitalismus befasste.
Kurz: Ich glaube, dass ich mich auf andere Art von dem mir vermittelten Wertesystem abgenabelt habe als die meisten Leute. Mehr durch Logik und dadurch, bei Widersprüchen entscheiden zu müssen, was davon nun richtig ist und was nicht, während es anderen oftmals leichter zu fallen scheint, sich einfach über sowas hinwegzusetzen, ohne das Wertesystem an sich in Frage zu stellen.
Daraus resultiert natürlich die Notwendigkeit von einer Menge Grübelei, und man wird immer mal wieder für sehr aufrührerisch gehalten, wenn man seine Zweifel und Einwände offen vorträgt, während andere still und leise "Fünfe gerade sein lassen" und brav mit dem Kopf nicken. Was ich dann wieder höchst ungerecht finde natürlich.
Wie steht ihr zu Werten? Welche habt ihr übernommen und welche selbst herausgebildet? Und: Ist da bei euch 'ne strukturell ähnliche Entwicklung abgelaufen wie bei mir?
20.09.06, 08:47:26
uppsdaneben
Kurz: Ich glaube, dass ich mich auf andere Art von dem mir vermittelten Wertesystem abgenabelt habe als die meisten Leute. Mehr durch Logik und dadurch, bei Widersprüchen entscheiden zu müssen, was davon nun richtig ist und was nicht, während es anderen oftmals leichter zu fallen scheint, sich einfach über sowas hinwegzusetzen, ohne das Wertesystem an sich in Frage zu stellen.
Mich hat es dabei Jahre gekostet, dass Leute einfach aus den unsinnigsten Gründen lügen, was ich nicht nachvollziehen konnte.
Zitat:
und man wird immer mal wieder für sehr aufrührerisch gehalten, wenn man seine Zweifel und Einwände offen vorträgt,
Das stimmt nicht. Man wird immer für aufrührerisch gehalten, wenn man eine andere Meinung vertritt.
Zitat:
Wie steht ihr zu Werten? Welche habt ihr übernommen und welche selbst herausgebildet?
Das kann ich heute nicht mehr sagen. Da ich mit Begründungen wie: "weil das so ist" und "das war schon immer so" noch nie etwas anfangen konnte, eckte ich häufig an. Heutzutage lasse ich diese Begründungen stehen und schere mich nicht drum, oder, falls es wichtig ist, beziehe ich es in die Kalkulation ein, wie ein Buchhalter das Porto verbucht.
Noch mit 30 Jahren wurde ich ausgelacht, weil eine Bekannte meine große Uhr über der Badezimmertür bemerkte. Für mich ist es der einzig richtige Ort, weil ich da morgens ein Gutteil meiner Zeit verbringe und ich weder Brille noch Uhr trage.
Ansonsten stelle ich für mich logische Ableitungen auf und verwerfe sie im Zweifel auch wieder, wenn ich bessere Erkenntnisse habe. Im Gegensatz zu den meisten Menschen tue ich das sogar, wenn es mir innerliche Pein bereitet - ich versuche nicht, die Wirklichkeit zu verbiegen. Oder zumindest nur so lange, bis ich es bemerke.
Weiterhin baue ich Kontrollpunkte ei, d.h., ich überprüfe, ob meine Weltsicht der Logik entspricht. Wenn Diskrepanzen existieren, suche ich nach Fehlern in meiner Ableitung oder ändere mein Verhalten.
Zitat:
Und: Ist da bei euch 'ne strukturell ähnliche Entwicklung abgelaufen wie bei mir?
Nicht ganz. Ich musste irgendwann lernen, dass Regeln sich ändern können, bzw. nicht absolut gelten. Danach baute ich obiges Ableitungsverhalten auf.
20.09.06, 10:05:22
bellaria
Ich hab auch eine große Uhr im Bad über der Tür und auch schon herausgefunden, dass manche Leute das irgendwie komisch finden. ;)
Werte:
Meine Eltern haben viele gepredigt und sich an wenige selbst gehalten. Man musste nur so tun als ob, solange die Nachbarn zusehen. Das hat mich schon als Kind angewidert.
Als ich 17 war, hat sich herausgestellt, dass meine Eltern mich bei einem für mich wichtigen Punkt nachhaltig belogen hatten: Sie waren gar nicht meine Eltern. Dies hat meinen Glauben in alles, was sie je gesagt hatten, so sehr erschüttert, dass ich mir ein komplett neues Wertesystem nach dem Versuch- und Irrtum-Prinzip und nach vielen Überlegungen selber erschaffen habe.
Der mit mir lebende Aspie hat angenehmer Weise ein sehr Ähnliches, wobei er deutlich mehr von seinen Eltern übernommen hat. Seines ist auch "konventioneller und braver" als meines. Er hat mir erzählt, dass er immer treudoof alles geglaubt hat, was seine Eltern sagten, und dann furchtbar verwirrt war, wenn es nicht gestimmt hat. Das hat er aber den Eltern und nicht den Werten angelastet. Er hat also alles übernommen und bis heute beibehalten, was sich nicht im Laufe seines Lebens als Schwachsinn eindeutig erwiesen hat.
20.09.06, 11:08:17
Wursthans
So, einerseits ist hier immer mal vom "hochautonomen Individuum" die Rede, andererseits kann ich mich bei mir auch an eine dazu im Widerspruch stehende Tendenz erinnern und finde hier Geschichten wie z.B., dass jemand sehr lange an den Weihnachtsmann geglaubt hat.
Hier sehe ich keinen prinzipiellen Widerspruch. Die Autonomie eines Individuums ist nur so gut wie seine Informationen. Informationen zu überprüfen braucht eine gewisse Lebenserfahrung und Kenntnis der Tücken seiner Umwelt.
Zitat:
Wie steht ihr zu Werten? Welche habt ihr übernommen und welche selbst herausgebildet? Und: Ist da bei euch 'ne strukturell ähnliche Entwicklung abgelaufen wie bei mir?
Werte sind wichtig als Orientierung wenn man sich an Menschen schlecht orientieren kann, weil man sie nicht versteht wie Nichtautisten es untereinander tun. Und Orientierung ist nötig um einen Bezug zur Umwelt zu finden denke ich. Daher neigen wohl Autisten dazu besonders an solchen Regeln ihre Orientierung festzumachen. Die fungieren vielleicht als Ausgangspunkt um die Welt selbst zu entdecken. Für einen Nichtautisten ist dieser Ausgangspunkt vielleicht eher eine gesellschaftliche Rolle von der aus er soziale Zusammenhänge erfahren kann. Dies mal als allgemeinsystematischer Antwortversuch.
21.09.06, 08:46:20
arlette
Kurz: Ich glaube, dass ich mich auf andere Art von dem mir vermittelten Wertesystem abgenabelt habe als die meisten Leute. Mehr durch Logik und dadurch, bei Widersprüchen entscheiden zu müssen
das kenne ich auch so. obwohl mein zuhause nicht heil war, habe ich mich stur und prinzipiell an die mir mitgeteilten werte gehalten und war überzeugt, dass die allgemeingültig sind (dinge wie: nicht lügen, nicht über andere mies reden hinter deren rücken, nicht stehlen, keinem was antun was man selber nicht erleben möchte etc.). erst, als ich von zu hause wegzog und oft durch meine 'naivität' in situationen kam, die ich überhaupt nicht verstand und die mich oft auch entsetzten, begann ich, diese werte zu überdenken. das heisst nicht, sie zu verwerfen, aber anhand neuer empirischer daten mich bewusst zu positionieren. das erkennen, dass 'die werthaltung' offenbar etwas sehr individuelles ist und dann auch noch, dass nicht selten individuen diese werte für sich selber sehr hochhalten, aber in der interaktion mit anderen diese wiederum sehr dehnbar benutzen, war für mich manchmal sehr verwirrend. ich hatte schlicht und einfach ziemlich lange zu 'beissen' an der tatsache, dass da nicht ein 'gesamtkonzept' und klare richtlinien bestehen, an die sich alle halten.
21.09.06, 09:43:13
Lisa M.
Zitat:
ich hatte schlicht und einfach ziemlich lange zu 'beissen' an der tatsache, dass da nicht ein 'gesamtkonzept' und klare richtlinien bestehen, an die sich alle halten.
Das habe ich überhaupt (noch???) nicht überdacht. Bezüglich Werte bin ich mittlerweile sehr rationalistisch eingestellt und hab deshalb so'ne Vorstellung im Kopf, dass die bestehenden Werte zwar Moden und individuellen Vorstellungen unterworfen sind, man im Grunde aber jedes sinnvolle Tabu von dem Grundsatz ableiten können müsste, dass man anderen nicht schaden sollte (so etwa). Über "irrationale Moral", die harmlose Vergnügungen als Laster oder Unanständigkeiten verurteilt, kann ich mich nur noch aufregen. Genauso darüber, dass manche Methoden der Schädigung anderer zwecks eigenem Vorteil als völlig normal und legitim gelten.
Dabei kann ich mich in anderen Dingen ganz schön weit von rationalistischen Positionen entfernen... Bei Kunst z.B. hat man m.E. das volle Recht, sie rein subjektiv zu mögen oder nicht zu mögen.