Ist Autismus heilbar und ist das wünschenswert?
12.09.06, 12:27:14
Lisa M.
Brechstangen sind meist wenig therapeutisch. Ein konkretes Beispiel, von dem ich gelesen habe (keine praktischen Erfahrungen, hab ich nicht), könnte man einen Autisten ansehen, der in einem Heim untergebracht wurde und dort aufgrund von Hospitalismus vieles verlernte, was er als Kind schon gekonnt hatte. Obwohl in seiner früheren Diagnose bereits Autismus gestanden hatte, wurde er dort als schwer geistig behindert und "sonst nix" eingestuft. Wenn er sich aufregte, weil ihm etwas missfiel, gab's eine beruhigende Behandlung in Form von Festbinden oder Spritzen.
Für einen Sonderpädagogen, der schließlich hinzugezogen wurde, weil der Mann immer aggressiver wurde, ging es zunächst darum, ihm Ausdrucksmöglichkeiten und Mitspracherechte zu verschaffen und das Personal darin zu schulen, seine Bedürfnisse zu erkennen.
Eine Therapie, die über die Bedürfnisse des Betroffenen hinwegbrettert, kann langfristig keinerlei Erfolg haben, schon gar nicht bei Autismus. Vielleicht ist das der Grund, weshalb so viele Therapieversuche dabei scheitern, obwohl doch grundsätzlich eine "Heilung" im o.g. Sinne möglich zu sein scheint? Insbesondere der Options-Methode den Vorwurf zu machen, sie würde über den Willen des Betroffenen hinweggehen, zeugt von Unkenntnis. Bei dieser Methode wird die Motivation des Betroffenen als Motor der Entwicklung angesehen und sich bemüht, ein Umfeld zu bieten, das dazu einlädt, sich damit zu befassen. Dasselbe gilt für die "Bodenzeit". Lediglich die Verhaltenstherapie geht davon aus, dass der Betroffene den Nutzen und das Vergnügen am Erlernten erst später entdecken kann und durch "sachfremde" Belohnungen motiviert werden muss (Bestrafung wird mittlerweile dabei möglichst vermieden). Insgesamt ist das ein humanerer Lernansatz als der, der heutzutage in Schulen angewandt wird, wo es den Lehrern nicht weiter wichtig ist, ob das Erlernte den Kindern was nützt und ob es eine "intrinsische Motivation" beinhaltet oder nicht, und Kindern, die nicht mitarbeiten, zur Strafe schlechte Noten gegeben werden - was oft genug eine Tracht Prügel seitens der Eltern nach sich zieht.
12.09.06, 15:33:59
aberich
Also ich kriege durchaus einen Zusammenbruch, wenn der Gerichtsvollzieher vor der Türe steht, ich mag nämlich überhaupt keine Besucher.
Unsere Meinungsverschiedenheiten basieren wie mir scheint auf unterschiedlichen Autismus-Konzeptionen. Eine "Heilung", nach der ich noch ich bin, kann es nicht geben, Autismus betrifft das ganze Wesen. Es ist ja nicht einfach irgendwo eine Schraube locker, die man nur mitm richtigen Schraubendreher festziehen muß, und man verliert die Bugs und behält die Features.
Autismus beeinflusst das ganze Gehirn , demnach wäre Heilung nur eine Gehirnamputation. Natürlich bin ich da ganz besorgt, wenn mir jemand mein Gehirn wegnehmen will!
Zitat:
Ich persönlich gehe in beiden Fällen nach der Devise "Im Zweifel für den Angeklagten" vor...
ja ich auch.
Die Haltung von Birger Sellin ist mir übrigens nicht so eindeutig klar. Er schreibt zum Beispiel am 23.12.90 (ich will kein inmich mehr sein, S. 81):
Zitat:
ich will es tatsächlich daß ihr wißt wie es da innen in autistischen kindern aussieht ohne das schreiben zu tangieren haben wir sagen wir solche angst die ohnesgleichen ist kannst du dir vorstellen wie es ist in einem sozialen system zu leben daß dich auf immer für verrückt erklärt es ist die inkarnation solcher auswüchse elementarer bösigkeit daß es keine beschreibung gibt aus der erkenntnis solcher auswüchse sehen wir daß unser system nicht stimmen kann ich will daß jeder weiß daß autistische kinder nicht dumm sind wie es oft angenommen wird
oder am 31.1.91
Zitat:
birger erscheint friedlich aber er ist nicht behindert denn er kann gefühle zeigen
und eine Stelle vom 22.6.91
Zitat:
die erste erfahrene ist denise
unsere erste werte war einfach richtig total süß
sie ist ein so astreines musterbeispiel von autistiscgher armseligkeit daß ihr heute sagen wir alle noch erzählen daß sie der abschaum der menschheit sei und dabei ist sie sehr sehr erfahren und klug
Denise ist eine Autistin, die mir Birger zusammen im Hort als "unterste Niveaugrenze" galt. Birger klagt über seine Isolation, er bringt aber auch eindeutig zum Ausdruck, dass er unter dem Umgang leidet, dem er und andere Autisten ausgesetzt sind. Und wer Tippfehler findet, die sind mein persönlicher Beitrag ;)
Zitat:
Heilung bedeutet imho, dass man seine Persönlichkeit bewahrt, aber dass man sein Leben selbstbestimmt führt, ohne Spielball von Ämtern, Behörden, Krankenkassen, Ärzten, Psychologen zu werden.
Heilung von was? Von Diskriminierung und Bevormundung? Bin immer dafür!!!
Das stimmt schon, als Autist erlebt man massig Zumuntungen. Als Schwarzer aber auch. Soll deswegen das Schwarzsein geheilt werden?
12.09.06, 15:49:16
Wursthans
Wir sind uns darin einig, daß Lernangebote dem Willen der Person entsprechen sollten um die es geht. Ansonsten war ich nicht direkt angesprochen, oder?
12.09.06, 16:15:23
Lisa M.
Zitat:
Autismus beeinflusst das ganze Gehirn
Guter Artikel! Es geht dann damit weiter, wie das gemeint ist: "Diese neue Erkenntnis legt nahe, dass Autismus eine Erkrankung ist, wobei die verschiedenen Bereiche des Gehirns nicht in der Lage sind, erfolgreich zusammenzuarbeiten."
Ich glaube nicht, dass meine Persönlichkeit futsch wäre, wenn verschiedene Bereiche meines Gehirns besser zusammenarbeiten würden. Tatsächlich ist da irgendein Problem, an dem ich auch in meinen besten Zeiten immer wieder gestrauchelt bin - wenn auch auf hohem Niveau. Es ist irgendwie, als ob alles ab einer gewissen Größe Ähnlichkeit mit einem verhedderten Wollknäuel bekommt. Und ganze Teile der Gesamtrealität, die ich im Blick behalten sollte, können aus meinem Kopf vorübergehend völlig verschwinden. Wie immer mit der Nase zu dicht davor stehend.
Echt, mal provozierend: Was hat das mit Persönlichkeit zu tun, und wo ist das toll?
Ich bin bislang nicht als Autistin diskriminiert worden. Aber die Leute wundern sich ziemlich, wenn sie den Eindruck haben, ich hätte doch enorm was auf'm Kasten und mir einen Haufen Verantwortung in die Hand drücken und ich mit dem ganzen Kram nicht zurande komme. Das wirkt irgendwie so, als hätte man einfach nur keine Lust. Wobei ich auch wirklich keine Lust mehr habe, wenn alles so ein komischer Wust ist.
Über Diskriminierung sind wir uns ansonsten einig. Ich halte auch nichts von Diskriminierung!
12.09.06, 16:40:03
aberich
Von der Überlegung, dass ein bestimmter Zustand nicht so erstrebenswert ist und ein anderer erstrebenswerter, kommt man logisch leicht dahin, Menschen, die sich im "nicht so erstrebenswerten Zustand" befinden, als "lebensunwertes Leben" abzuqualifizieren. Die Betroffenen selbst werden dabei um so weniger gefragt, je weniger sie sich äußern können.
Genau!
Zitat:
Die andere Extremposition - dass Autisten möglichst im "Naturzustand" belassen werden sollten, weil sie so vermutlich ganz zufrieden seien und überhaupt jegliche Entwicklung einer Zerstörung der Persönlichkeit bedeute, lässt sich gegen jegliches gezielte Lernen anwenden, insbesondere, wenn andere die Lernziele bestimmen.
es ist euch hoffentlich klar, dass ich diese Position nicht vertrete? Ich habe nichts gegen das Lernen, aber das ist nicht dasselbe wie "Heilung". Auch in der als radikal geltenden Aspie-Szene sind mir solche Extrempositionen wie o.g. nicht begegnet, in der Regel haben die Leute nichts gegen das Lernen. Die Forderung nach Berücksichtigung geeigneter Lernmethoden finde ich jedoch berechtigt und notwendig.
Zitat:
Aber ich glaube, so uneinig sind wir uns gar nicht, wenn das oberste Lernziel die Möglichkeit eines weitgehend selbstbestimmten Lebens ist.
Jau.
Zitat:
Wenn jemand schwer erkennen kann wie weit ein Auto von ihm entfernt ist kann das lästig und sogar sehr gefährlich sein.
Solche Probleme sind mir ja bewusst, und gerade dieses habe ich auch selbst. Täglich. Ich finde es nur unfair, Interessenskonflikte, denn genau das ist es meiner Ansicht nach, auf die eine Seite zu verlagern, auf die Seite der Leute, die in der schwächeren Position sind. Im Interesse so mancher Autofahrer ist es offenbar ungebremst über die grüne Fußgängerampel zu brettern, und ich soll damit klar kommen, dass ich mich zu Tode erschrecke? Und wenn die mich anfahren, während ich bei Grün über die Straße laufe, ist es meine Schuld, weil ich nicht so schnell wie NTs weghüpfen kann?
Treppen zum Beispiel behindern Rollstuhlfahrer und ich halte es für sehr richtig, dass es immer mehr Rampen gibt, dass man nicht sagt, na dann lerne endlich laufen oder lass' dich halt tragen. Eine Rampe sehe ich im Übrigen nicht als Nettigkeit oder Wohltätigkeit der Nichtbehinderten, die ist genau so eine selbstverständliche Mobilitätshilfe wie eine Treppe. Leute haben verschiedene Bedürfnisse, na und? Oder mal ein anderes Beispiel: ich ging hier in den Supermarkt, hinter mir war eine Rollifahrerin. Ich also rein und sie blieb vor dem Drehkreuz stehen, kehrte um, rollte zur Kasse, bat um Einlass, es ertönte 'ne schrille Klingel, erschien ein sichtlich genervter junger Mann und schob das Ding zur Seite. Warum stellt man Leuten Hindernisse in den Weg? Hat denn niemand dran gedacht, dass es lästig und demütigend ist, um Einlass zu bitten, wenn man im Rolli sitzt oder nicht vorgesehene Körpermaße hat? Kleinigkeit? Vielleicht. Und es gibt Supermärkte ohne Drehkreuz im Eingang. Aber diese Kleinigkeiten sammeln sich und wachsen zu einem Berg von Hindernissen heran, die jedem, der irgendwie von der Wunschnorm abweicht, das Leben erschweren. Tendenz steigend.
_OO_, das mit dem Kühlergrill vestehe ich nicht, magst du es erklären?
12.09.06, 16:43:23
aberich
Wir sind uns darin einig, daß Lernangebote dem Willen der Person entsprechen sollten um die es geht. Ansonsten war ich nicht direkt angesprochen, oder?
ja. Meinst du, ob ich dich direkt angesprochen habe? Ne, ich hab deine Beiträge erst danach gelesen.
12.09.06, 17:02:08
aberich
Ich hab schon viel geschrieben, meine Position ist klar, die muß niemand verstehen oder teilen. Bin weg hier. Tschau.
12.09.06, 17:07:36
Wursthans
Das mit dem Kühlergrill war ein Symbol dafür weswegen ich von ungeordneter Wahrnehmung sprach. Wenn dir was passiert, weil du es nicht gesehen hast.
Nach deinen letzten zwei Beiträgen verstehe ich deine Position besser glaube ich. Ja, ich fände es sicher auch schön, wenn man mehr Rücksicht aufeinander nehmen würde. Mehr fällt mir dazu im Moment nicht ein. Doch: Ist es nicht so, daß ich mich selbst behindere, indem ich fordere man solle auf mich Rücksicht nehmen, wenn ich selbst vielleicht auch nicht immer Rücksicht nehme auf Personen, die mir so begegnen? Wo ist der Punkt an dem Rücksicht für eine ganze Gesellschaft und alle Menschen in ihr trägt? Vielleicht sollte man jemanden der nicht sicher im Straßenverkehr ist auch aus Rücksicht auf eventuelle Unfälle mit Schäden bei Dritten nur bedingt aus dem Haus lassen? Wo ist die Goldene Linie? Populistische Forderungen a la "hier bin ich" finde ich generell zu einfach.
13.09.06, 18:44:05
Zapfsäule
Wenn ich in den Spiegel blicken und dort einen weinerlichen verwirrten Jammerlappen entdecken müsste, der auf dieser Welt nicht seinen Spaß hätte, dann würde ich mir sagen: Alter, Du bist krank.
13.09.06, 21:38:57
DrChaoZ
Wenn ich in den Spiegel blicken und dort einen weinerlichen verwirrten Jammerlappen entdecken müsste, der auf dieser Welt nicht seinen Spaß hätte, dann würde ich mir sagen: Alter, Du bist krank.
sicher dass das nicht nur eine fassade ist die du aufrecht erhälst damit du überhaupt in den spiegel schauen kannst? egomanismus ist auch eine krankheit.
13.09.06, 21:40:32
DrChaoZ
Wenn ich in den Spiegel blicken und dort einen weinerlichen verwirrten Jammerlappen entdecken müsste, der auf dieser Welt nicht seinen Spaß hätte, dann würde ich mir sagen: Alter, Du bist krank.
sicher dass das nicht nur eine fassade ist die du aufrecht erhälst damit du überhaupt in den spiegel schauen kannst? egomanismus ist auch eine krankheit.
nochwas: was macht dir eigentlich so viel spaß? ein paar konkrete hinweise wären jetzt angebracht um etwas informationsgehalt abzuringen.
13.09.06, 21:41:27
Wursthans
Der Begriff Krankheit wird wie wir wissen kulturell bestimmt. ;)