"Irgendwie fühle ich mich falsch verstanden"
12.09.09, 03:10:54
B.v.Kolibri
Im Thread zum Lautieren habe ich geäußert, das ich mich von azrael und 55555 irgendwie falsch verstanden fühle.
Das Hinterfragen dieser Aussage hat einen intensiven Gedankenprozess in mir ausgelöst, den ich jetzt erklären möchte:
Das Wort irgendwie habe ich gewählt, weil mir selber nicht ganz klar war worin dieses Gefühl begründet liegt. Ich hätte zum Zeitpunkt des Schreibens nicht konkret sagen können was bei mir Störungen hervorruft und wie sie sich auswirken.
Wenn ich über mehrere Tage in einem Forum mitlese mache ich mir ein inneres Bild von einigen Teilnehmern. Je mehr jemand schreibt, desto stärker sticht er aus der Masse. Ich akzeptiere grundsätzlich jede Meinung, da sie immer aus Lebensgeschichten entsteht. Dennoch habe ich meinen eigenen Standpunkt, den ich gerne vertrete. Kommt es zum Gedankenaustausch, so verschiebt sich dieser Standpunkt manchmal, weil ich eine neue Perspektive habe. Ich beziehe Umstände mit ein, deren ich mir vorher nicht bewusst war oder die nicht wichtig erschienen.
Dich 55555 erlebe ich hier als konsequenten Kritiker des vorherrschenden Systems.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, das Veränderungen zunächst ein gegenteiliges Handeln erfordern um auf Missstände aufmerksam zu machen. Nur so erhält man die Aufmerksamkeit der Gesellschaft und wird selber sensibel für die Situation. Bestenfalls wird am Ende ein Kompromiss gefunden, in dem sich alle Beteiligten wiederfinden.
Ich vergleiche das gerne mit einem Pendel.
Das muss auch zunächst ganz zur anderen Seite ausschlagen,
dann werden die Entfernungen immer kleiner
und am Ende bleibt es in der Mitte stehen.
In jüngeren Jahren waren für mich Kompromisse unerträglich, ich war ein Rebell.. Heute empfinde ich sie oftmals als gute Lösung, da sie mehrere Bedürfnisse beinhalten und somit gemeinsam getragen werden können.
In meinem Bemühen um Kompromisse (ich bin kein Autist obwohl ich glaube viele von Euch empfundene Störungen stören mich auch) versuche ich für Kolibri Lösungen zu finden, die ihm ein Leben in der Gesellschaft ermöglichen ohne ihn dabei komplett zu verbiegen oder ihn auszugrenzen. Ich möchte ihn gerne stark machen und ich möchte, dass er sich selber gut findet in seiner Einzigartigkeit.
Auf Grund dieses gedanklichen Hintergrundes wirken Deine Beiträge auf mich häufig so kämpferisch, 55555, dass ich sie zwar verstehe aber nicht umsetzen kann.
Und während ich hier schreibe stelle ich fest, dass dies wahrscheinlich gar nicht Deine Intention ist. Ich stelle Deine Beiträge in einen zu engen Bezug zu meiner Situation. Dadurch wirken sie starr und fast schon unfreundlich, da Du so klar schreibst. Ich interpretiere oft wohl zu persönlich, da ich als NA doch mehr Interaktion und Empathie gewohnt bin.
Kannst Du Dich in meinen Worten wiederfinden?
Ich werde versuchen Deine Beiträge neutraler/allgemeiner zu sehen.
Ähnlich ergeht es mir mit Dir, azrael.
Wenn ich Beiträge von Dir lese, an denen ich mich nicht beteilige, so freue ich mich darüber, dass Du mir Zugang zu Deiner Gedankenwelt bietest. Geht es jedoch um meine konkreten Beiträge so fühle ich mich häufig unterschwellig missverstanden.
Und mit Abstand gesehen glaube ich nicht, dass du das so meinst. Ich nehme es wahrscheinlich zu persönlich, da ich es eng mit meiner/Kolibris Situation verbinde. Auch hier werde ich versuchen neutraler zu sein.
Zuletzt stellt sich mir jetzt die Frage ob das Alles eine typische Störung in der Kommunikation zwischen Autisten und Nichtautisten ist? Wie denkt Ihr darüber?
12.09.09, 09:40:30
zoccoly
geändert von: zoccoly - 12.09.09, 09:46:06
Ich finde das Thema sehr wichtig, da es immer wieder zu Missverständnissen kommt und diese scheinbar an der unterschiedlichen Kommunikation liegen.
Jetzt versuche ich etwas darzustellen, wovon ich keine Ahnung habe und nur orakeln kann, deshalb ist mir deine Meinung dazu auch wichtig.
Mir wurde mal gesagt „Musst du immer gleich im Wohnzimmer stehen und kannst nicht erstmal über den Flur kommen?“ Den Satz musste ich mir erklären lassen und erahne die Tragweite zunehmend.
Gemeint war, dass ich immer direkt antworte, dass ich auf Einleitungen verzichte, dass ich Kritik nicht „verpacke“.
Das scheint bei NA anders zu sein und jetzt beginnt von meiner Seite das Orakeln. Ich stelle es mir wie folgt vor, zuerst tauscht man Nettigkeiten aus, hebt das Positive hervor, um ein Gemeinsamkeitsgefühl zu erzeugen. Diese Basis scheint enorm wichtig für jedes Gespräch und ist Grundlage, um auch kritische Bemerkungen zu tätigen. Ist eine feste Basis aufgebaut, ist auch Kritik oder eine andere Ansicht möglich, diese darf dann scheinbar wieder nicht direkt geäußert werden, sondern durch die „Blume“ und genau an dieser Stelle verstehe ich dann nichts mehr. Für mich ist es langsam faszinierend, dass man sich bei dieser Art der Kommunikation immer noch versteht.
Das bedeutet aber auch, dass ich Fragen immer missverstehe, weil ich gar nicht erahne, dass man eigentlich eine andere Frage meinte
„Was haltet ihr vom…“ direkte Antwort: nichts
Für mich ist es die einzige Antwortmöglichkeit, vielleicht steckten aber auch in der Frage noch andere: „Wie findet ihr meine Bemühungen, was haltet ihr von meinem Engagement…und zum Schluss die Frage, was haltet ihr vom…?
Dann würde man natürlich nacheinander die drei Fragen beantworten.
12.09.09, 11:56:53
haggard
@B.v.Kolibri:
interessanter punkt. findest du das negativ, das "falsch verstanden fühlen"? wodurch hättest du dich richtig verstanden gefühlt? oder ist das wieder ein anderer aspekt und hat nichts mit dem "negativen" zu tun?
vermute ebenfalls vorgänge, wie zoccoly sie beschrieb.
wobei ich bei mir teilweise auch aspekte entdecke, die mein eigenes verstehen erschweren. doch ohne, dass andere personen ihre eigenen aussagen erläutern würden, bleibt es bei der erkenntnis, dass es erschwert ist. ich kann dann zwar in sätzen/aussagen einzelne worte erkennen, doch zusammen ergeben sie für mich offenbar keinen "geeigneten" sinn. ähnlich wie chinesische schriftzeichen. können zwar sehr gut voneinander abgegrenzt werden, doch wenn deren wandelbare bedeutungen innerhalb eines satzes unbekannt sind, wird unter umständen der vollständige satz mit seiner transportierten aussage nicht verstanden werden können.
12.09.09, 13:09:16
55555
Ich denke auch, daß NA da in gewisser Hinsicht psychisch labiler sind und ständig von Angst getrieben irgendwie aus dem Rudel ausgestoßen, abgelehnt zu werden. Das scheint dann meist wichtiger zu sein als verbale Auseinandersetzung, das archaische Rudelgefühl herrscht hier eher über die Ebene, die das Menschsein ausmacht.
Es mag sein, daß du dich in "Sachzwängen" befindest. Diesen Zweispalt gegenüber dem, was eigentlich gut wäre, mußt du dann wohl mit dir ausmachen. Die Feststellung solcher Pendelbewegungen ist schon generell richtig, Gewalt erzeugt meist Gegengewalt. Ich halte meine Darstellungen jedoch für ausgewogen, sie sind bereits der Kompromiss. Zudem sollte man das Pendelbild nicht überstrapazieren. Wenn es z.B. um die Abschaffung der Sklaverei im Gesetz ginge, dann wäre mir neu, daß hier historisch ein Kompromiß gefunden wurde (wenn auch real betrachtet heute Sklaverei noch faktisch in erheblichem Umfang existiert, vielleicht gab es nie so viele Sklaven, wie heute).
13.09.09, 00:46:01
drvaust
Mir ist bei der Kommunikation mit NA nicht nur aufgefallen, daß viel drumherumgeredet und mehr über Befindlichkeit als Fakten geredet wird.
Meistens wird eine Diskussion auf eine isolierte Angelegenheit begrenzt und persönlich empfunden. Eine neutrale Diskussion unter Berücksichtigung der allgemeinen Zusammenhänge wird oft mißverstanden.
Mal ein erfundenes Beispiel: Jemand jammert, mir gegenüber, über das Schlagloch vor seinem Haus. Da diskutiere ich über die Schlaglöcher, auf der Straße, die Ursachen, wie die geflickt werden usw.. Daraufhin ist diese Person beleidigt. Diese Person fühlt sich nicht ernst genommen, weil ich über irgendwelche Schlaglöcher rede und nicht über ihr Schlagloch.
Ich interpretiere oft wohl zu persönlich, da ich als NA doch mehr Interaktion und Empathie gewohnt bin. ...
Ich werde versuchen Deine Beiträge neutraler/allgemeiner zu sehen.
Das meine ich.
Zuletzt stellt sich mir jetzt die Frage ob das Alles eine typische Störung in der Kommunikation zwischen Autisten und Nichtautisten ist? Wie denkt Ihr darüber?
Das vermute ich auch. Man muß immer die andere Sicht bedenken.
Bestenfalls wird am Ende ein Kompromiss gefunden, in dem sich alle Beteiligten wiederfinden. ...
Heute empfinde ich sie oftmals als gute Lösung, da sie mehrere Bedürfnisse beinhalten und somit gemeinsam getragen werden können.
Ich bin der Meinung, daß Kompromisse nicht unbedingt eine gemeinsame Lösung bedeuten müssen.
Ich finde es besser, wenn jeder möglichst ungestört seinen eigenen Weg gehen kann.
Ich möchte ihn gerne stark machen und ich möchte, dass er sich selber gut findet in seiner Einzigartigkeit.
Das halte ich für sehr wichtig. Ein gutes Selbstbewußtsein ist wichtiger als Anpassung. Dann findet man auch einen guten Weg.
13.09.09, 07:42:44
B.v.Kolibri
geändert von: [55555] - 13.09.09, 13:35:55
[Kettenbeitrag zusammengefasst, mfg [55555]]
Ich denke auch, daß NA da in gewisser Hinsicht psychisch labiler sind und ständig von Angst getrieben irgendwie aus dem Rudel ausgestoßen, abgelehnt zu werden. Das scheint dann meist wichtiger zu sein als verbale Auseinandersetzung, das archaische Rudelgefühl herrscht hier eher über die Ebene, die das Menschsein ausmacht.
Hier
Zitat:
Zeitmangel spielt, so glaube ich, eine große Rolle. Um sich auf eine Interaktion einzulassen bedarf es Zeit. Zeit zu verstehen, Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Antworten. Und jeder Mensch braucht unterschiedlich viel Zeit. Das passt aber oftmals nicht in unsere schnelllebige Gesellschaft, denn wir rasen von Termin zu Termin, müssen uns gedanklich vorbereiten um auch diesen wieder gut hinzukriegen, weil wenn wir das nicht tun, sind wir ersetzbar. Beim Arbeiten, bei Freundschaften und in der Familie. Ersetzbarkeit macht Angst (Druck). Wir leben heute nicht mehr in "gewachsenen" Systemen. Dies bedeutet Freiheit aber auch Ersetzbarkeit, da nur noch einzelne Fähigkeiten gefragt sind und nicht mehr der ganze Mensch mit Stärken und Schwächen. Diesem komplexen,gesellschaftlichen Druck fühle ich mich schon ausgesetzt und er macht mein Leben kompliziert und anstrengend.
hab ich mir über einen Teilaspekt der Ursachen Gedanken gemacht. Ich selbst erlebe mich nicht als Teil des Rudels, möchte aber mit ihm "tanzen"
[Frei nach 'Der mit dem Wolf(srudel) tanzt!]
Es mag sein, daß du dich in "Sachzwängen" befindest. Diesen Zweispalt gegenüber dem, was eigentlich gut wäre, mußt du dann wohl mit dir ausmachen. Die Feststellung solcher Pendelbewegungen ist schon generell richtig, Gewalt erzeugt meist Gegengewalt. Ich halte meine Darstellungen jedoch für ausgewogen, sie sind bereits der Kompromiss. Zudem sollte man das Pendelbild nicht überstrapazieren. Wenn es z.B. um die Abschaffung der Sklaverei im Gesetz ginge, dann wäre mir neu, daß hier historisch ein Kompromiß gefunden wurde (wenn auch real betrachtet heute Sklaverei noch faktisch in erheblichem Umfang existiert, vielleicht gab es nie so viele Sklaven, wie heute).
Da hast Du Recht, muss ich mit mir ausmachen, Eure Erklärungen helfen mir jedoch dabei, einen eigenen Weg zu finden.
feedback on
ich erlebe Deine Bespiele schon als drastisch, kann sie jetzt aber besser zuordnen. ;)
feedback off
Ich finde das Thema sehr wichtig, da es immer wieder zu Missverständnissen kommt und diese scheinbar an der unterschiedlichen Kommunikation liegen.
Jetzt versuche ich etwas darzustellen, wovon ich keine Ahnung habe und nur orakeln kann, deshalb ist mir deine Meinung dazu auch wichtig.
Wir können das gerne gemeinsam auseinander pflücken ;)
....Ich stelle es mir wie folgt vor, zuerst tauscht man Nettigkeiten aus, hebt das Positive hervor, um ein Gemeinsamkeitsgefühl zu erzeugen. Diese Basis scheint enorm wichtig für jedes Gespräch und ist Grundlage, um auch kritische Bemerkungen zu tätigen. Ist eine feste Basis aufgebaut, ist auch Kritik oder eine andere Ansicht möglich, diese darf dann scheinbar wieder nicht direkt geäußert werden, sondern durch die „Blume“ und genau an dieser Stelle verstehe ich dann nichts mehr. Für mich ist es langsam faszinierend, dass man sich bei dieser Art der Kommunikation immer noch versteht....
Grundsätzlich scheint das NA-Kommunikationssystem so zu funktionieren. Die Intensität des ganzen 'DRUMHERUM' ist aber von Person zu Person unterschiedlich. Manche Menschen sind klarer, direkter, oftmals auch selbstsicher. Denen genügt der Austausch von Informationen.
Je höher aber die Verunsicherung bezüglich der eigenen Person oder Position ist, um so mehr 'in Sicherheiten wiegen' ist notwendig.
Für mich ist das oftmals auch nicht klar ersichtlich, was mein Gegenüber braucht.
Das bedeutet aber auch, dass ich Fragen immer missverstehe, weil ich gar nicht erahne, dass man eigentlich eine andere Frage meinte
„Was haltet ihr vom…“ direkte Antwort: nichts
Für mich ist es die einzige Antwortmöglichkeit, vielleicht steckten aber auch in der Frage noch andere: „Wie findet ihr meine Bemühungen, was haltet ihr von meinem Engagement…und zum Schluss die Frage, was haltet ihr vom…?
Dann würde man natürlich nacheinander die drei Fragen beantworten.
Du verdeutlichst hier wie komplex dieses System ist....ob es sinnvoll oder nötig ist bezweifel ich, aber aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Situation hat es sich wohl so entwickelt. Ich denke das die Menschen vor 100 Jahren noch viel direkter gesprochen haben.
13.09.09, 13:53:52
55555
ich erlebe Deine Bespiele schon als drastisch, kann sie jetzt aber besser zuordnen. ;)
Das mit der Sklaverei? Manche Sklaven im Altertum hatten wohl ein wesentlich besseres Leben als heutige Autisten. Die hatten ja mitunter durchaus Freiheiten. Heute aus der Illegalität sieht das anders aus, wenn in einer Region Sklaverei eben nicht mehr gesellschaftlich akzeptiert ist und die Sklavenhalter deswegen anders agieren. Das ist wie mit dem illegalen Drogenhandel. Aus diesem Grund gibt es ja auch Überlegungen manche Drogen zu legalisieren, vielleicht kommt ja auch irgendwann jemand irgendwo darauf Sklaverei teilweise wieder zu legalisieren, um diese Illegalitäts-Effekte zu mindern. Aber worum es mir eigentlich geht: Ich finde den Vergleich absolut angemessen und wenn er als extrem betrachtet wird, zeigt mir das, daß jemand die Tragweite der Diskriminierungen gegen Autisten noch nicht erfasst hat.
Zitat:
Je höher aber die Verunsicherung bezüglich der eigenen Person oder Position ist, um so mehr 'in Sicherheiten wiegen' ist notwendig.
Wobei gerade die ja oft "Meister" im einseifen sind, es sei denn es handelt sich um einen angestellten Bluthund.
Zitat:
Ich denke das die Menschen vor 100 Jahren noch viel direkter gesprochen haben.
Glaube ich nicht. Damals gab es hierzulande noch einen Kaiser und ein ziemlich autoritätes Gesellschaftssystem mit republikanischen Elementen.