Hier ist mal ein Bericht von einer sehr alten Frau in einem Interview, wovon sie unte anderem vom Tod berichtet.
Zitat:
Eine Frau hat über hundert Jahre gelebt. Bald wird sie sterben. Ein Gespräch über das Altern, den Tod und das Gefühl, ein Wurm zu sein.
Darf ich Ihren Namen nennen?
Nein, das möchte ich nicht.
Wie alt sind Sie?
101 und vier Monate.
Fühlen Sie sich alt?
Manchmal ja. Man fühlt sich in die Ecke gestellt. Man hat keine Aufgabe mehr, kein Ziel. Wissen Sie, ich bin noch ein bisschen neugierig. Ich will wissen, was draußen vor sich geht. Und hier im Heim ist man so abgeschlossen.
Wie lange wohnen Sie schon im Pflegeheim?
Das dritte Jahr.
Vorher wohnten Sie noch zu Hause?
Ja. Ich hab gerade erst vor vier Wochen meine Wohnung aufgelöst.
Das Heim ist Ihre letzte Station im Leben. Sie werden hier sterben.
Ja, praktisch zähle ich nur meine Tage, in denen ich noch lebe. (lacht)
Wieso lachen Sie, wenn Sie das sagen?
Man steht auf einmal drüber. Ich kann es selbst nicht erklären.
Wann hat das angefangen, dass Sie „drüberstanden“?
Das ist noch nicht so lange. Erst habe ich gebangt: „Wie geht Dir’s, wenn die Wohnung weg ist?“ Aber dann ging es reibungslos. Es war sogar irgendwie eine Erlösung. Und jetzt bin ich praktisch mittellos, habe grad nur noch ein Bett und ein Schränkchen.
Das Leben jetzt ist also einerseits enger, andererseits aber auch leichter?
Ich bin jetzt irgendwie . . . arm. Es ist demütigend, weil ich so hilfebedürftig bin. Der Körper macht nicht mehr mit. Ich bin das nicht gewöhnt, jeden Tag um Hilfe zu bitten. Das sind ja ganz einfache Sachen, die man nicht mehr machen kann. Es ist grausam. Aber wenn man denkt: „Ach, dann lasse ich es“, dann verkommt man.
Sie müssen sich immer wieder neu aufraffen, um Hilfe zu bitten?
Ich sehe ja, die Pfleger sind so beschäftigt. Da will ich nicht klingeln, nur weil was runtergefallen ist. Wie ein Wurm, kommt man sich da vor, der im Dreck wühlt und nicht mehr weiter weiß. Ich weiß, wenn man jung ist, denkt man nicht an sowas. Ich war ja auch mal jung. Damals habe ich gedacht: Wenn ich alt bin, mache ich es mir schön. Ich gehe spazieren und lese. Und auf einmal können Sie das alles nicht mehr.
Ab wann fühlten Sie sich alt?
Da war ich schon fast 90. Als mein Mann nachher tot war, die Kinder aus dem Haus waren, da bin ich erst mal sehr viel gereist. Schottland, Norwegen, Syrien, Jordanien, Ägypten. Ich war eigentlich immer gesund. Bis in den Knien die Arthrose kam. Und dann habe ich mir das Handgelenk und eine Hüfte gebrochen, konnte nicht mehr allein zu Hause bleiben.
Ihr Körper ist irgendwann einfach schwach geworden?
Der Körper macht nicht mehr mit. Das hat lange gedauert, bis ich mich damit abgefunden habe. Ich habe immer viel Sport gemacht. Habe hier mit hundert den anderen Damen noch Gymnastik vorgemacht – natürlich keine Kraftübungen. Und jetzt kann ich auf einmal nicht mehr. Ich bin wie eingerostet. Die Schultern, die Arme, ich kann die einfach nicht mehr heben. (Sie versucht es, aber es geht nicht weit.)
Was geht da nicht mehr? Die Muskeln?
Es will einfach nicht mehr. Ich merke auch im Kopf, dass ich alt werde. Also, alt bin. Ich habe keine Ausdauer mehr, auch im Denken. Auf einmal finde ich ein Wort nicht mehr. Wie ein Automat, wo nix mehr drin ist.
Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Körper noch zu Ihnen gehört? Oder ist er Ihnen im Alter fremd geworden?
Nein, nicht fremd. Der Verstand sagt mir: Es ist halt so, es geht nicht anders. Es ist das Natürliche. Es geht ja alles zu Ende irgendwann. Aber ich habe Tage, da denke ich, ich würde am liebsten aufstehen und loslaufen, gell! Und es geht nicht mehr.
Was würden Sie machen, wenn Sie einen anderen Körper hätten?
Ich würde gerne mal wieder durch den Wald laufen. Die Ruhe fehlt mir. Sie werden lachen: Im Heim ist es immer zu laut. Hören tu ich noch gut. Jeden Schlag und jeden Rums. Und alle sind hier schwerhörig, die Pfleger müssen schreien. Das stört mich, wissen Sie. Das tut mir weh, das Laute. Naja, ich habe mich inzwischen schon dran gewöhnt. In der ersten Zeit bin ich jedes Mal zusammengefahren, wenn eine Tür zuschlug.
Sie haben vorhin gesagt, Sie haben keine Aufgaben mehr. Was meinten Sie damit?
Mir fehlt die geistige Beschäftigung. Ich guck wohl Fernsehen, aber ich sehe fast nix mehr. Ich bin mit einer Frau auf einem Zimmer, die ist 98. Schwerhörig. Ich kann mich mit der kaum unterhalten. Wir leben stumm zusammen – es ist schlimm. Manchmal kann ich nachts nicht schlafen, weil ich denken muss. Neulich wollte ich ausrechnen, was mein Körper schon geleistet hat in den hundert Jahren. Wie viele Schritte er gelaufen ist. Oder wie oft er schon geschluckt oder geatmet hat. Das wollte ich ausrechnen, aber das ist unmöglich (lacht). Damit beschäftige ich mich, verstehen Sie. Das ist ja lächerlich! (lacht)
Ich finde es nicht lächerlich.
Aber es ist ohne Ergebnis.
(Immer wieder hallen Schreie einer Frau durch die Gänge der Etage.)
Haben die Pfleger Zeit, sich mit Ihnen zu unterhalten?
Sie machen das. Aber wenn die mal da sind, dann ruft schon wieder jemand und sie rennen wieder fort. Es gibt welche, die organisieren ein Quiz, Kegeln oder Liedersingen. An sich schön. Aber ich komme mir immer vor wie im Kindergarten. Ich bin auch keine Studierte oder Allwissende, aber . . . (schweigt, schüttelt den Kopf)
Vorhin haben Sie davon gesprochen, dass Sie sich im Heim eingeengt fühlen. Entzieht das Heim Sie dem Leben?
Mit der Zeit werden Sie hier depperich. Ich sage immer: Hier werde ich auch noch schwerhörig. Das ist schlimm, wenn man das selbst bei sich spürt. Hier im Heim sitzt man rum, wartet aufs Essen. Und trotzdem geht die Zeit sehr schnell vorbei. Ich kann mich nicht beschweren, aber es ist wie im goldenen Käfig. Mit der Zeit wird man da leer, gell. Der Körper geht langsam ein, es wird immer weniger mit der Kraft, und der Geist auch. Und das ist kein schönes Gefühl, wenn man bewusst miterlebt, wie man weniger wird.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein, das ist ganz komisch. Bis vor drei, vier Jahren habe ich immer gedacht: „Wie wird das mal, wie geht das mal, wie stirbst du?“ Ich hatte Angst, dass es wehtut. Ich will nicht, dass ich noch sehr krank werde und wochenlang im Bett liege. Aber vorm Tod direkt habe ich keine Angst.
Und vorm Totsein? Vorm Nicht-mehr-da-sein?
Wenn Sie so alt werden wie ich, dann sind Sie viel allein. In meinem Alter ist niemand mehr da. Dann sagt man sich: Ich bin überflüssig. (lacht) Mit der Zeit bin ich aus der Angst rausgewachsen.
Sind Sie gläubig?
Ich bin katholisch. Meine Mutter war ziemlich besessen, sie war vom Land, wie das früher so war. Mein Vater war evangelisch, aber nicht übertrieben. Ich bin immer in die Kirche gegangen. Ich bete auch.
Was bedeutet Beten für Sie?
Ich bete, dass meine Kinder in Frieden leben können. Und auch die ganze Umgebung.
Glauben Sie, dass Ihre Seele nach Ihrem Tod noch weiterlebt?
Das wird uns zwar gesagt, aber ob das so ist, weiß ich nicht.
Ok, angenommen, es ist vorbei. Kein Himmel, kein Paradies. Was hat dieses Leben Ihnen überhaupt gebracht?
(lacht, überlegt dann lange) Dass ich halt gelebt habe . . . Zum Teil war es schön, zum Teil weniger.
Was waren die schönen Dinge, die Sie erlebt haben?
Eigentlich waren die schönsten, wie ich nachher allein war. Da konnte ich tun und lassen, was ich wollte.
Also zwischen 70 und 90?
Ja, ich hatte da keine Pflichten.
Und Sie waren noch gesund.
Ja. Später kamen dann irgendwelche Zipperlein, die konnte ich immer wieder überstehen, bis die Hüftoperationen kamen. Die habe ich zwar überstanden, aber ich bin beschädigt.
Sie schauen Ihrem eigenen Verfall zu und Sie sagen, dass das schlimm ist. Könnte man das auch anders sehen: Dass es leichter ist zu sterben, wenn man sieht, dass man „weniger wird“, wie Sie gesagt haben?
Ja, da leben Sie rein, irgendwie, dass Sie sich so einstellen.
Ist das Leben, das Sie jetzt führen, schon Teil des Sterbens?
Ja, vielleicht . . . Es kann sein, ich sterbe morgen. Es kann aber auch sein, ich lebe noch zwei oder drei Jahre.
Was wäre Ihnen denn lieber? Morgen oder in drei Jahren?
Manchmal würde ich gerne morgen schon sterben. Im Heim ist man so heimatlos. Verstehen Sie?
Unterhalten Sie sich mit anderen Mitbewohnern über den Tod?
Das meiste, über das wir uns unterhalten, ist Blabla. Ich kenne bald von jedem den ganzen Lebenslauf und seine Krankheiten. (lacht)
Und über das Sterben?
Nein, da spricht keiner drüber.
Warum nicht? Das würde ja naheliegen.
Jeder drückt sich davor zu sprechen.
Wenn hier jemand stirbt, was passiert dann? Machen Sie eine gemeinsame Trauerrunde oder so etwas?
Gar nichts passiert. Der verschwindet heimlich.
Das hätte ich nicht gedacht.
Als ich hundert geworden bin, habe ich gedacht: Es gibt eine kleine Feier. Ich habe mir nachts den Kopf zerbrochen, wie ich mich bedanke. Mir ein paar Worte zusammengelegt. Aber gar nichts. Die Leitung hat mir ein Kästchen Pralinen gebracht. Naja, die Pfleger haben gratuliert. Ich habe mich nicht geärgert, aber ich kam mir dumm vor.
Als Sie noch jung waren, haben Sie sich so das Alter vorgestellt?
Ich habe es mir eigentlich nie so ausgedacht. Dass man dann ganz allein ist. Ich meine, ich bin nicht allein, ich habe ja die Kinder . . . Aber man ist doch allein.
Gibt es etwas, das Sie noch erledigen oder abschließen möchten, bevor Sie sterben?
Eigentlich nicht. Ich würde gerne noch wissen, dass es meiner Tochter wieder besser geht. Denn sie ist schon sehr lange krank. Und wie es meinem Sohn geht, was aus der Enkelin wird. Die hat noch keinen Freund gesehen.
Wenn Ihre Enkelin keine Kinder kriegt, ist mit Ihrer Familie Schluss? Ist das für Sie wichtig?
Ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht. Aber so ist das bei vielen Familien, die ich gekannt habe: Die meisten haben sich irgendwie aufgelöst. Ohne Nachfolger. Es geht auch so. Der ganze Lebenskreis, Bekanntenkreis verschwindet. Alle, die ich gut gekannt habe, sind tot. Ich bin so ein Überbleibsel.
Aus Ihrer Generation kennen Sie niemanden mehr?
Es ist ganz selten, dass ich mal jemanden treffe, den ich gut kenne. Die sind dann schon alt, aber nicht so alt wie ich. Der eigentliche Lebenskreis ist einfach (sie macht eine wegwerfende Handbewegung und pfeift), es ist alles nicht mehr da.
Aber Ihre Kinder leben noch. Das könnte in Ihrem Alter auch anders sein.
Jetzt sterben die Bekannten von meinen Kindern. So Ende 70, fast 80. Junge Männer. Das sind die Kinder, die mit meinen Kindern in der Schule waren, zusammen Hausaufgaben gemacht haben. Die sterben auf einmal alle. Oder sind krank. Ja, ach Gott. Und Sie müssen das alles mitmachen.
Wie meinen Sie das?
Man muss das alles verdauen. Ich als uralte Frau aus dem letzten Jahrhundert. (lacht) Ich muss das alles mitmachen. Und die anderen gehen schon.
In solchen Situationen würden Sie auch lieber gehen?
Manchmal denke ich, ja. Nicht für mich, sondern für meine Kinder, für meinen Sohn. Der hat es schwer, seine Frau ist auch schon gestorben.
Das habe ich nicht verstanden. Möchten Sie weiterleben für ihren Sohn oder lieber tot sein, um ihn nicht zu belasten?
Ich möchte schon gerne noch für meine Kinder da sein. Aber ich kann es ja nicht mehr.
Wir haben jetzt viel darüber geredet, dass Sie das Gefühl haben, „drüberzustehen“. Sagen Sie, warum darf ich Ihren Namen nicht nennen? Warum stehen Sie da nicht drüber? Wovor sorgen Sie sich?
Ich bin ja keine Wissenschaftlerin, kein Studierte.
Lernen kann man von jedem. Sie wissen mehr als fast jeder andere über das Alter.
Ich möchte nicht auffallen, ich bleibe lieber im Dunkeln. Aber das Gespräch hat mir gefallen. Ich bin froh, wenn ich ein bisschen Abwechslung habe. Denn was ich hier sehe, ist alles immer so traurig. Es sind schon viele gestorben. Und wenn man sieht, wie man sich erst noch mit denen unterhalten hat und die dann auf einmal zusammenfallen – das ist furchtbar.
Ich habe auch schon in meinem Leben innerhalb der Familie Tode "mitbekommen".