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meinen Bruder ansprechen? bitte Autisten um Meinung!

original Thema anzeigen

24.09.08, 17:37:51

Rhea

Hallo!

Schön, dass es dieses Forum gibt! Meine Frage richtet sich an alle hier, die die Diagnose "Asperger-Autismus" haben.

Es geht um meinen großen Bruder.
Er ist 26 Jahre alt (ich bin 23) und zeigt seit frühester Kindheit Verhaltensauffälligkeiten, vor allem im Bereich der sozialen Kommunikation, die unglaublich exakt auf das Asperger Syndrom passen. Ich habe sehr viel darüber gelesen, seit ich darauf gestoßen bin und immer wieder festgestellt, dass das einfach GENAU mein Bruder ist.

Er hat keine Diagnose. Meine Frage wäre nun, inwiefern es für einen Betroffenen hilfreich ist, diese Diagnose zu haben? Gibt es bestimmte Dinge, die dadurch euer Leben erleichtert und verbessert haben? Lebt es sich besser als "Asperger-Autist" als einfach als Sonderling und Außenseiter? Habt ihr dadurch an sozialen Kontakten hinzugewonnen, z.B. mit anderen Betroffenen?

Ich bin mir nämlich sehr unsicher, wie ich nun mit diesem Gedanken weiter fortfahren soll? Es ist nämlich so, dass es mir überhaupt nicht möglich ist, mit meinem Bruder über persönliche Dinge zu sprechen, genauso wenig wie ich ihn anfassen darf - deshalb empfinde ich unser Verhältnis als sehr distanziert. Diese Distanz macht es mir im Prinzip unmöglich, ihn auf seine Probleme anzusprechen ohne eine Wutreaktion (ohne Antwort) zu ernten. Allerdings hat er auch sonst niemanden, dem er sich öffnet (denke ich jedenfalls). Er ist mir sehr wichtig, auch wenn wir nicht viel voneinander wissen. Ich habe Angst davor, dass er es als Beleidigung auffassen würde, wenn ich ihn mit dem Asperger Syndrom konfrontieren würde, als würde ich ihn als "krank" oder "verrückt" abstempeln wollen... ich habe überhaupt keine Ahnung, ob er glücklich ist oder sich unwohl fühlt... Ich kann mich überhaupt nicht in ihn hinein versetzen! Wenn ich versuche, mir vorzustellen, an seiner Stelle zu sein, keine richtigen Freunde zu haben, noch nie eine Beziehung gehabt zu haben, ständig als komischer Kauz wahrgenommen zu werden, dann würde ich darunter leiden und mir Hilfe wünschen... aber das heißt ja nicht, dass er darunter leidet: vielleicht fehlen ihm solche sozialen Bindungen ja überhaupt nicht. Wenn er einfach ist wie er ist, wofür braucht er dann eine Diagnose?

Ich würde ihm gern helfen, aber ich habe sehr viel Angst davor, ihm zu nahe zu treten. Er lässt überhaupt keine Nähe zu. Deshalb die Frage: ist es überhaupt sinnvoll ihn damit zu konfrontieren??? Und wenn ja: wie um alles in der Welt soll ich das anstellen?

Tausend Dank, ich würde mich sehr über Antworten und Meinungen von Betroffenen - oder auch von anderen Angehörigen, die dieses Problem kennen - freuen!!!

Gruß. Rhea
24.09.08, 17:50:25

Gast

Hallo, Rhea,
ich bin nicht autistisch,
aber wie wär´s wenn Du ihm einen Brief schreibst?
Ich finde, er hat ein Recht auf diese Information,
was er damit anfängt, ist dann seine Sache.
viele Grüße,
anne
24.09.08, 19:23:01

55555

Dir ist klar, daß die Bezeichnung "Betroffene" eigentlich nur für negative Sachverhalte benutzt wird? Sowas lesen wir hier allgemein nicht gerne, weil Autismus keine Krankheit ist und auch sonst nichts Schlimmes.
Zitat von Rhea:
Meine Frage wäre nun, inwiefern es für einen Betroffenen hilfreich ist, diese Diagnose zu haben? Gibt es bestimmte Dinge, die dadurch euer Leben erleichtert und verbessert haben?

Wenn du dir ähnliche Threads im Forum durchliest wirst du das erfahren.
24.09.08, 19:28:06

tabby

geändert von: tabby - 24.09.08, 20:13:26

Zitat:
und mir Hilfe wünschen...


Hilfe wuenscht man sich erstmal nicht, eigentlich nur akzeptanz

die anderen Schwierigkeiten bemerkt man erst hinterher wie das schlechte Mimikablesen, die Gesichtsblindheit, die Motorikprobleme etc, weil man die ganze Zeit glaubte, das alle so høren, sehen, fuehlen, wie man selbst und sich dauernd wundert, wie die zurecht kommen und so geschickt sind.

So wars jedenfalls bei mir, befinde mich noch in der Diagnosefindung. Nach einem Schock war ich froh, das mein Mann drauf kam

schreiben ist eine gute Idee ;)
24.09.08, 20:30:46

Rhea

@55555:
das mit der Wortwahl tut mir Leid, ich hab kein besseres Wort gefunden - freue mich über Vorschläge! Genau das, was du aber in deiner Antwort/Reaktion darauf schreibst, ist aber ja mein Gedankengang: ich sehe meinen Bruder nicht als krank und ich möchte nicht, dass er sich von mir in diese Ecke geschoben fühlt, wenn ich mit dem Gedankenanstoß "Asperger Syndrom" komme...


Er ist wie er ist und das ist mit Sicherheit gut so. Nur habe ich nicht den Eindruck, dass sein Leben gerade einfach ist und ich frage mich eben, ob es eine Möglichkeit gäbe, ihn zu unterstützen, besser mit seiner Umwelt klarzukommen, bzw. für die Nicht-Autisten in seiner Umwelt, besser zu verstehen, was in ihm vorgeht... ich fühle mich zum Beispiel sehr oft von ihm abgewiesen, weil er mich nicht einmal in den Arm nimmt, wenn wir uns für ein halbes Jahr nicht mehr sehen werden, weil er mich nie fragt, wie es mir geht, weil er nie erzählt, wie es ihm geht usw. Dabei meint er das sicherlich nicht so, wie es bei mir ankommt.

Brief ist sicherlich eine gute Idee, sprechen geht nämlich sehr schlecht, da fühlt er sich gleich auf den Schlips getreten...

Aber wie könnte ich ihn denn zum Beispiel fragen, ob er mit seinem Leben zufrieden ist oder nicht?
24.09.08, 20:42:58

tabby

hørt sich an, als hættest Du mehr ein Problem mit seiner Art, als umgekehrt. Du vermisst das inarm-nehmen, nicht umgekehrt ;)
24.09.08, 20:56:58

Hans

geändert von: Hans - 24.09.08, 23:17:57

Wie ich jetzt drauf gekommen bin, war es eine Erleichterung.

Aber jetzt habe ich ein neues Problem, ähnlich dem Deinen:
Ich habe schon einen spezielleren Bekanntenkreis,
dabei sind auch viele schrullige, eigenbrödlerische und
Andere, ebend starke Charakter.
Bei ein paar davon bin ich mir ganz sicher,
die sind auch ...

Ich möchte jeden davon gerne darauf ansprechen,
trau mich aber nicht so einfach.
Bei Einem habe ich erzählt daß ich anders bin und Details geschildert.
Er hat mich daraufhin zu beruhigen versucht und gesagt,
daß es ihm genau so gehe und ich doch normal sei:
"Daß Du ein Bisserl spinnst wissen wir doch alle,
da mußt Du doch ned glei autistisch werden."

An diesem Beispiel kann man erkennen wie wenig die Leute allgemein über das autistische Spektrum wissen,
obwohl sie dazu gehören.
Das einzige was hilft ist erst mal allgemein informieren,
bis man dann genauer einsteigen kann.

Dem Kind einen Namen geben ist nicht einfach,
wenn der Name einen negativen Beigeschmack hat.
Zuerst muß der Beigeschmack weg,
dann kann man darüber leichter reden.

Aber zu Deinem Bruder weiß ich auch nicht wie.
Wenn mich meine kleine Schwester vor einem halben Jahr
darauf angesprochen hätte,
wäre ich sehr wahrscheinlich nicht darauf eingegangen.

Mich hat ein Schulkamerad beim Klassentreffen angesprochen:
"wie geht es Dir, Du warst doch ein autistisches Kind?"
Er ist Zahnarzt, und dann so eine "Diagnose"
Die hat aber dann ins rollen gebracht,
daß ich mich hier schlau gelesen habe.



Schwer ist leicht was (Ottfried Fischer)
24.09.08, 21:10:13

[55555]

[Da eine Distanzierung von Begriff "Betroffene" erfolgte habe ich ihn im Titel durch "Autisten" ersetzt, mfg [55555]
24.09.08, 21:27:36

55555

Zitat von Rhea:
Nur habe ich nicht den Eindruck, dass sein Leben gerade einfach ist und ich frage mich eben, ob es eine Möglichkeit gäbe, ihn zu unterstützen, besser mit seiner Umwelt klarzukommen, bzw. für die Nicht-Autisten in seiner Umwelt, besser zu verstehen, was in ihm vorgeht...

Du könntest ihn auf diese Seite verweisen. Es kann schon sein, daß er, wenn er Autist ist, froh ist zu wissen warum er nicht wahrnimmt wie viele andere Menschen. Als Angehöriger einer Minderheit ergeben sich meist auch Probleme.
Zitat:
ich fühle mich zum Beispiel sehr oft von ihm abgewiesen, weil er mich nicht einmal in den Arm nimmt, wenn wir uns für ein halbes Jahr nicht mehr sehen werden,

Und nun erkennst du, daß es vielleicht nicht so gemeint ist und kannst es hinnehmen?
Zitat:
sprechen geht nämlich sehr schlecht, da fühlt er sich gleich auf den Schlips getreten...

Was bringt dich zu dieser Einschätzung? Wie erlebst du sein Verhalten in ähnlichen Situationen?
Zitat:
Aber wie könnte ich ihn denn zum Beispiel fragen, ob er mit seinem Leben zufrieden ist oder nicht?

Solche Sachen würde ich bei einem Autisten ganz weglassen und einfach erzählen, daß du auf ein Charaktertypenmodell gestoßen bist, das dich an ihn erinnert. Dann könntest du ihm einfach die Eigenschaften aufschreiben und ihn fragen, ob er sich auch darin wiederfindet. Danach könntest du ihm dann erzählen, daß das entgegen der Klischees der reale Autismus ist, der heute leider noch offiziell als krank definiert wird, wie Homosexualität vor noch wenigen Jahrzehnten auch oder als schlecht wie früher Linkshändigkeit. Das nicht so schleimig wie eine Krankenschwester, sondern einfach sachbezogen.
24.09.08, 21:47:51

tabby

und nicht so viel einleiten und wie gesagt, Deine eigenen Gefuehle fuer ihn weglassen, sonst sieht er es vielleicht als Vorwurf an und macht wieder auf stur.

;)
25.09.08, 01:52:46

drvaust

Zitat von Rhea:
Es ist nämlich so, dass es mir überhaupt nicht möglich ist, mit meinem Bruder über persönliche Dinge zu sprechen, genauso wenig wie ich ihn anfassen darf - deshalb empfinde ich unser Verhältnis als sehr distanziert. Diese Distanz macht es mir im Prinzip unmöglich, ihn auf seine Probleme anzusprechen ohne eine Wutreaktion (ohne Antwort) zu ernten.
Warum ist das so? Hast Du ihn schon zu sehr genervt? ;) Da scheint Ihr ein Problem zu haben.
Ich kann mit meinem Bruder über persönliche Dinge sprechen (natürlich nicht alle, einige Geheimnisse bleiben). Wir sind verschieden und respektieren unsere Andersartigkeit.

Zitat von Rhea:
Er hat keine Diagnose. Meine Frage wäre nun, inwiefern es für einen Betroffenen hilfreich ist, diese Diagnose zu haben? Gibt es bestimmte Dinge, die dadurch euer Leben erleichtert und verbessert haben? Lebt es sich besser als "Asperger-Autist" als einfach als Sonderling und Außenseiter? Habt ihr dadurch an sozialen Kontakten hinzugewonnen, z.B. mit anderen Betroffenen?
... aber das heißt ja nicht, dass er darunter leidet: vielleicht fehlen ihm solche sozialen Bindungen ja überhaupt nicht. Wenn er einfach ist wie er ist, wofür braucht er dann eine Diagnose?
Eine Diagnose ist eine amtliche Bescheinigung. Dann weiß man genauer (hoffentlich richtig) was man hat und hat bestimmte Rechte (z.B. Schwerbehindert und Förderung). Das hat aber evtl. auch Nachteile, z.B. bei Gesundheitsprüfungen für Versicherungen.
Durch die Diagnose ändert sich ein Mensch nicht, man ist danach immer noch der gleiche, nur mit Etikett. Manchen hilft es, wenn sie wissen, warum sie so sind. Aber die typischen Probleme löst eine Diagnose nicht.
 
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