16.04.08, 18:46:15
Philosophin
Hallo,
ich möchte mich als neue Nutzerin des Forums gerne vorstellen und tue das hier in diesem Bereich, da ich weder selbst Autistin bin noch Angehörige. Hoffe, das ist richtig so?
Ich habe Philosophie studiert und schreibe nun eine Promotion zu philosophischen Theorien von Intersubjektivität. Die Promotion ist zwar philosophisch ausgerichtet, beschäftigt sich aber viel mit neurowissenschaftlichen Studien.
Ein wichtiger Schwerpunkt wird das autistische Spektrum sein, wobei mich vor allem die Idee der "Neurodiversität" interessiert, also die Idee, dass zum Beispiel Intersubjektivität bei verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich funktionieren kann, ohne dass eine Herangehensweise unbedingt "normaler" oder "gesünder" ist als die andere.
Da ich zwar die Literatur halbwegs kenne, aber keinerlei persönliche Erfahrung mit "Autismus" habe, bin ich für jede Hilfe dankbar. Konkrete Fragen habe ich im Moment aber nicht. Ich bin froh, dieses Forum gefunden zu haben, dass einige für mich sehr spannende Fragen diskutiert.
Soweit beste Grüße,
Miriam
16.04.08, 19:48:01
55555
Das liest sich fürs erste ja mal regelrecht wie eine sinnvolle Sache. :)
Im Grunde halte ich Neurodiversität für nichts Neues. Jeder Mensch weiß, daß es verschiedene Charaktere gibt und nur weil man Charaktere nun neurologisch zu untersuchen beginnt, ändert sich die Welt nicht. Aber es ändern sich Bilder im Kopf. Je nach Grenzziehung von Autismus zum Nichtautismus, etc. variieren die Schätzungen des Anteils von Autisten an der Bevölkerung von 0,5 - 1%. Das bedeutet Autisten werden vielleicht nicht unbedingt so sehr viel häufiger schwer auffällig als Nichtautisten, sondern vor allem anders auffällig. Da "Autismus" aber ein medizinisch-pathologischer Begriff ist wird so ein ganzes Charakterbild, das es seit vielen hunderttausend Jahren geben muß, wie die global recht gleichmäßige Verbreitung von Autismus zeigt, mit pathologisiert. Das ist denke ich das, was wirklich neu ist.
16.04.08, 22:37:01
Philosophin
Ja, das sehe ich so ähnlich. Ich habe vor kurzem mit einer Frau gesprochen, die versucht herauszufinden, wieso die "Autisten", die erst als Erwachsene diagnostiziert werden, nicht schon als Kinder aufgefallen sind. Das hat häufig wohl was mit Toleranz in Familien zu tun, dass es halt Familien gibt, die sagen "Unser einer Sohn ist so, der andere anders". – Eine Gesellschaft, die Neurodiversität wirklich zulässt, kann ich mir schwer vorstellen (aber das kann auch an meinem etwas negativen Gesellschaftsbild liegen). Meine Arbeit hat allerdings erstmal keinen ethischen Ansatz, sondern ist mehr beschreibend.
Beste Grüße,
Miriam
16.04.08, 23:27:36
55555
Eine Gesellschaft, die Neurodiversität wirklich zulässt, kann ich mir schwer vorstellen
Das sehe ich anders, der Punkt, der aktuell zu Verwerfungen führt ist die Erkenntnis von Ursachen vor der noch starken Tabuisierung von Psychologie in vielen Bereichen der Gesellschaft. Aber diese andere Bestimmung und Benennung von Andersartigkeit hat sicher auch andere Facetten. Früher war ein Charaktertyp wohl nie in dieser Weise von Autoritäten verkündet worden. Daher kann auf diesem Etikett nun auch Ausgrenzung ganz anders aufbauen, die Ausgrenzung kann sich gewissermaßen wissenschaftlich begründen und das in einer Zeit in der die Wissenschaft noch immer die vorherrschende Glaubensform hinsichtlich von Wahrheiten darstellt, gerade für Personen, die gar nicht wirklich wissen, was Wissenschaft ist.
17.04.08, 04:48:21
drvaust
wieso die "Autisten", die erst als Erwachsene diagnostiziert werden, nicht schon als Kinder aufgefallen sind. Das hat häufig wohl was mit Toleranz in Familien zu tun, dass es halt Familien gibt, die sagen "Unser einer Sohn ist so, der andere anders".
Ich bin schon als Kind aufgefallen. Aber Autismus war damals, auch bei Fachleuten, ziemlich unbekannt. Zeitweilig war ich in Behandlung, aber das war nie das Richtige. Gespräche, Übungen, Medikamente usw., nichts half richtig.
Ich bin immer noch am Rande der Normalität mitgekommen. In der Schule war ich ein Außenseiter, gehörte aber fest zur Klasse, wir waren 10 Jahre zusammen, hielten zusammen. Erst in der Lehre, und danach, gab es heftige Probleme.
Meine Eltern hatten mich immer unterstützt, ich war ihr Sohn, egal wie. Meine Eltern stehen nicht so sehr auf vorgeschriebene Normalität. Mein Bruder ist reichlich 8 Jahre (100 Monate) jünger als ich, da gab es keinen direkten Vergleich.
Ich denke, die Toleranz in der Familie ist kein großes Problem, man ist da verwandtschaftlich verbunden. Die Probleme kommen hauptsächlich beim Kontakt mit Menschen und Institutionen außerhalb der Familie, Nachbarn, Bekannte und entfernte Verwandte, Kindereinrichtungen, Schule usw..